Kategorien
Calais

Vorgeschichte – Teil 1: Calais

2016-2020 [Recherche], 21.3.2020 [Text]

Die Vorgeschichte beginnt in den 1990er Jahren. Sie zu erzählen würde den Rahmen dieses Blogs sprengen. Und es ist auch nicht nötig, denn sie ist gut dokumentiert (grundlegend durch Michel Agier, siehe auch unseren Bericht bei bordermonitoring.eu).

Informationstafel zur Geschichte des Jungle (2015/16) am Rand seines heute gesperrten und teilweise renaturierten Geländes, Februar 2020 (Foto: Thomas Müller)

Beginnen wir also im November 2016: In diesem Monat wurden die letzten Reste des größten Jungle beseitigt, den es in Calais gegeben hatte und dessen Bewohner_innen in einer spektakulären, von hohem Medieninteresse begleiteten Räumung auf ganz Frankreich umverteilt worden waren. In diesem Jungle hatten zeitweise über 10.000 Menschen gelebt, und er hatte einen Prozess der prekären Urbanisierung durchlaufen. Heute liegt die südliche Hälfte seines Geländes als Brachfläche dar und die nördliche wurde in ein Naturschutzgebiet verwandelt. Eine Neubesiedlung durch die Exilierten wurde nie wieder zugelassen.

Nach der Räumung gaben die Behörden die Losung aus, das Problem der Migrant_innen in Calais sein gelöst, da es in Calais keine mehr gäbe. Tatsächlich lebten im Winter 2016/17 einige hundert Migrant_innen versteckt und kaum sichtbar im der Umgebung der Stadt oder kehrten nach wenigen Wochen und Monaten aus den Aufnahme- und Orientierungszentren (CAO) zurück, in die sie gebracht worden waren. Jedes auch noch so kleine Zeltcamp wurde unmittelbar geräumt, um einen neuen Jungle im Ansatz zu verhindern.

Ein Teil dieser wenigen hundert Menschen lebte im Frühjahr 2017 nach Herkunftsgruppen getrennt in Parks, Grünstreifen und an den ehemaligen Hafenquais in der Innenstadt von Calais, andere unter ähnlichen Bedingungen in Gewerbegebieten und auf Brachflächen am Rand der Stadt. Die meisten schliefen ohne Zelt, nur geschützt durch Planen, Thermofolien und Schlafsäcke unter Büschen, an Gebäuden oder unter Brücken.

Nach und nach bildeten sich vor allem im Gewerbegebiet Zone Industrielle des Dunes kleine Camps, die in raschem Turnus geräumt und zerstört wurden, um danach wieder zu entstehen. Mit der Zeit wurden die Camps stetiger, größer und sichtbarer, doch blieben die Lebensbedingungen in ihnen durch den Rhythmus der Räumungen, häufige Polizeiübergriffe (Zerstörung von Zelten, Mobiltelefonen und persönlicher Habe; exzessiver CS-Gas-Einsatz; Schlagstöcke; demütigende Akte wie die Wegnahme von Schuhen) sowie durch Schlafentzug und Mangel an lebensnotwendigen Gütern prekär. Dies bedeutete u.a., dass die Zahl der physisch und psychisch Erkrankten – und damit die Anfälligkeit für Infektionen – von Anfang an hoch war und es heute noch ist.

Aufgrund der langen Vorgeschichte und früheren Größe der Jungles bestand und besteht ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen, das hauptsächlich von lokalen Bürger_innen, französischen, britischen und belgischen Volunteers (Freiwilligen) und politischen Aktivist_innen getragen wird und ein Spektrum abbildet, das von humanitärer Grundversorgung über die Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen bis zu politischen und juristischen Interventionen reicht. Ein zentrales Instrument der Solidarität waren und sind mobile Teams, die an den Treffpunkten und Camps warme Mahlzeiten verteilten, elektrischen Strom und WLAN bereitstellten, Zugang zu medizinischer und rechtlicher Hilfe schufen, sich um Minderjährige kümmerten, das Polizeiverhalten dokumentierten und ähnliches mehr.

Als Erfolg einer Klage, die diese lokalen Akteure 2017 bis zur höchstinstanzlichen Ebene durchfochten, waren die Behörden gezwungen, eine eigene rudimentäre Grundversorgung zu schaffen. Daraufhin richteten sie an der Rue des Huttes in der Zone Industrielle des Dunes eine Anlaufstelle mit Essensausgabe, Zugang zu Trinkwasser, Strom und Sanitäranlagen ein; hinzu kamen weitere Transfers in Aufnahmezentren außerhalb der Region.

Zur gleichen Zeit entwickelte sich in einem anderen Teil der Zone Industrielle des Dunes, und zwar an der Rue de Verrotieres, ein wichtiger Treff- und Versorgungspunkt der Migrant_innen, an dem sich kleine, nach Herkunftsgruppen getrennte Zeltcamps bildeten. Als der Platz im März 2019 geräumt und durch einen massiven Zaun unzugänglich gemacht wurde, verlagerte sich das Geschehen rund um den behördlichen Versorgungsplatz an der Rue de Huttes. Zu beiden Seiten dieser Straße sowie entlang der benachbarten Route de Gravelines und Rue des Garenne verschmolzen die Camps nun zu einem neuen Jungle. Da die Behörden weiterhin mehrmals wöchentlich Teilräumungen durchführten, blieb das Leben hochgradig prekär. Die Camps bestehen ausschließlich aus gebrauchten Campingzelten, die allenfalls durch eine überspannte Plane vor der Witterung abgeschirmt sind. Einige Camps befinden sich in einem Waldgelände, das einen gewissen Schutz bietet, andere auf Brachflächen, nacktem Asphalt und dem Gleiskörper einer Bahnstrecke. Das gesamte Gebiet, über das sich die Camps des Jungles verteilen, erstreckt sich über ungefähr 1,2 km in der Länge und ein paar hundert Meter in der Breite.

Camp im Calaiser Jungle, November 2019 (Foto: Uwe Schlüper)

Im Januar 2020 kam es zu zwei signifikanten Veränderungen. Zum einen stieg die Zahl der Migrant_innen von 300 bis 500 im Herbst auf 900 bis 1000 Personen an, was insbesondere angesichts der Winterzeit den höchsten Wert seit November 2016 darstellt Wie bereits in den früheren Jungles mit einem hohen Anteil unbegleiteter Minderjähriger. Gleichzeitig gingen die Polizeibehörden zu täglichen Räumungen des Jungle über, die nun außerdem seine gesamte Fläche betrafen. Er wurde nun also jeden Tag zerstört und entstand nach dem Abrücken der Polizei jeden Tag neu.

In Calais trafen seit jeher Geflüchtete verschiedener Herkunftsländer aufeinander. Sie stammten und stammen aus den ostafrikanischen Ländern Sudan, Eritrea und Äthiopien sowie aus Afghanistan, Pakistan, dem Irak, dem Iran und anderen Staaten. Allerdings verschoben sich ihre Anteile v.a. aufgrund von Binnenmigrationen zwischen Calais, Grande-Synthe, Brüssel und Paris beständig. Zugleich wuchs der Anteil derjenigen stark, die bereits länger in Europa lebten und nach der endgültigen Ablehnung eines Asylverfahrens im Erstaufnahmeland oder aus Furcht vor einer Dublin-Abschiebung nun nach einer Alternative oder Nische suchten. Im Verlauf dieser Entwicklung wurde es normal, in Calais auf Menschen zu treffen, die lange in Deutschland gelebt hatten und deutsch sprachen.