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Dunkerque & Grande-Synthe

Vorgeschichte – Teil 2: Grande-Synthe

2016-2020 [Recherche], 21.3.2020 [Text]

Ähnlich wie in Calais, entwickelten sich rund um Dunkerque (Dünkirchen) informelle Camps. Von Dunkerque aus besteht die nach Calais zweitwichtigste französische Fährverbindung nach Großbritannien, doch befindet sich der Hafen weit außerhalb des Zentrums in der Nähe der Kleinstadt Grande-Synthe. Dort wuchs im Herbst 2016 ein Camp binnen weniger Monate von etwa 80 auf rund 2400 Personen an, die auf extrem morastigen Gelände unter widrigsten Bedingungen in Zelten lebten. Unter den meist irakisch-kurdischen Bewohner_innen befanden sich ein verhältnismäßig hoher Anteil an Familien und Kindern. Eine in zahlreichen Schilderungen betonte (vor allem sexuelle) Gewalt kennzeichnete das Camp zusätzlich und endete mit dessen Auflösung nicht.

Auf Initiative der Ärzte ohne Grenzen und des grünen Bürgermeisters Damien Carême wurden die Bewohner_innen im März 2016 in das neu errichtetes Hüttenlager La Linière umgesiedelt, das humanitären Standards entsprach und landesweit als Vorreiterprojekt galt. Nachdem die Anzahl der Bewohner_innen stark zurückgegangen war, wichen im Vorfeld der Räumung des Jungle von Calais (Oktober 2016) etwa 1000 meist afghanische Migrant_innen nach Grande-Synthe auf, sodass La Linière nun zum größten Flüchtlingslager Frankreichs wurde. Als am 10./11. April 2017 ein Konflikt zwischen den Gruppen eskalierte, brannte das Lager fast vollständig nieder und wurde danach geschlossen.

Wie zuvor in Calais, verbrachten die Behörden einen Teil der Bewohner_innen nun und in der Folgezeit immer wieder in Aufnahmezentren außerhalb der Region. Andere Migrant_innen blieben in Grande-Synthe und errichteten im Puythouck, einem weitläufigen Wald-, See- und Freizeitgelände, kleine Camps, die nach Räumungen rasch wieder neu entstanden.

Bürgermeister Carême stellte weiterhin kommunale Hilfen zur Verfügung, Dazu gehörte u.a. eine Unterkunft in einer Turnhalle, die im Laufe des Jahres 2018 stark in Anspruch genommen wurde, sodass sie überbelegt war und um sie herum ein Camp entstand. Nach der polizeilichen Räumung der Halle am 17. September 2019 und der Verbringung von etwa 700 Migrant_innen in räumlich entfernte Aufnahmezentren verschlechterte sich die Situation, zumal der neue sozialistische Bürgermeister Martial Bayaert die von seinem Vorgänger eingeleitete Politik kommunaler Solidarität nicht fortführte.

So bot die Kommune auch während der beginnenden Winterzeit keine humanitären Hilfen mehr an, obschon es trotz gegenteiliger Aussagen der Kommune im Puythouck weiterhin neue Camps gab. So gab es z.B. auch direkt an einem See – weithin sichtbar auch von der Autobahn – einen von den Migrant_innen organisierten kleinen Markt. Außerdem besetzten Migrant_innen die Ruinen der ehemaligen Molkerei La Linière, die bis 2017 teilweise zum gleichnamigen Lager gehört hatten und sich inzwischen in einem katastrophalen baulichen Zustand befanden, und errichteten in den leeren Hallen Zeltcamps. Nach einer abermaligen Räumung folgte die Wiederbesetzung. Während des Sturms „Sabine“ im Februar 2020 sollten Teile der Gebäude auf die (zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise leeren) Zelte stürzen.

In Grande-Synthe leben weiterhin hauptsächlich Migrant_innen aus dem kurdischen Norden des Irak sowie aus Afghanistan, und nach wie vor ist der Anteil von Familien und Kindern hoch. Ihre Anzahl ähnelte in den vergangenen Jahren derjenigen in Calais und lag meist etwas darunter. Anfang 2020 waren es etwa 400 bis 500 Menschen.