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Calais Corona

Am Anfang der Seuche

Passeurs d’hospitalités über Calais im März

Um den Beginn der Corona-Krise im Jungle besser zu verstehen, hilft ein Blick in den Weblog Passeurs d’hospitalités. Zwischen 2014 und 2018 war er so etwas wie eine Chronik der Ereignisse: Sprachrohr keiner einzelnen Initiative, aber mit seiner kritischen analytischen Sicht an der Seite der Exilierten. Nach längerer Pause wurden am 17. und 18. März 2020 zwei neue Berichte veröffentlicht. Julia Druelle beschreibt darin die Situation am Beginn der Coronakrise und an den ersten Tagen des confinement, aber noch vor dem Auftreten der ersten Infektionen. Wir dokumentieren die Texte in deutscher Übersetzung.

Calais: Angesichts der Corona-Pandemie wird nichts getan, um die Migrant_innen in Sicherheit zu bringen

von Julia Druelle, Passeurs d’hospitalités, 17. März 2020

Während Frankreich gerade Ausgangsbeschränkungen für die Bevölkerung verhängt hat, leben an der Nordküste des Landes 2.000 Migrant_innen ohne Obdach und unter katastrophalen sanitären Bedingungen. Vor Ort sind die Hilfsorganisationen sehr besorgt, da bis jetzt keine Maßnahme zum Schutz der Migrant_innen eingeleitet worden ist.

Bereits letzte Woche machten die Hilfsorganisationen Utopia 56 und l’Auberge des Migrants auf die fehlende Betreuung dieser schutzbedürftigen Menschen aufmerksam, während sich die Gesundheitskrise abzeichnete. In einem am Montagabend veröffentlichen Kommuniqué riefen sie die Behörden erneut auf, zu handeln. Antoine Nehr, Koordinator bei Utopia 56, ist sehr besorgt:

„Die Lage ist schon lange dramatisch, genau gesagt seit der Räumung des Jungle im Jahre 2016: Die Migrationspolitik wurde verschärft mit dem Ziel, zu verhindern, dass die Migrant_innen sich in Calais niederlassen und dort auch bleiben. Dies wirkt sich in einer besonders starken Präsenz der Polizei aus sowie in täglichen Räumungen, die die Geflüchteten sehr schwächen. Diese Menschen werden in großer Unsicherheit belassen. Sie sind erschöpft und gestresst; sie leben zu mehreren in Zelten unter erbärmlichen sanitären Bedingungen. Man schätzt, dass über tausend, vielleicht 1.400 Menschen hier draußen in Calais leben. Es gibt auch viele Migrant_innen in Grande-Synthe.“

„Die jetzige Krise gibt Aufschluss über die generell fehlende Betreuung der Geflüchteten; in einer solchen Situation, wenn nicht bald Maßnahmen ergriffen werden, wird es schlimm kommen, falls das Virus sich in den Camps ausbreitet. Wir fürchten wirklich, dass die Obdachlosen, die letzten sein werden, die in Sicherheit gebracht werden.“

Am 5. März sind die Hilfsorganisationen einer Einladung zu einer Besprechung gefolgt, in der der Unterpräfekt die geplanten Sicherheitsmaßnahmen geschildert hat: die Verteilung von Flyern zur Aufforderung, sich die Hände zu waschen und in einem gewissen Abstand zu anderen zu bleiben. Ungeeignete Maßnahmen, die vor Ort nicht durchführbar sind. Ein weiteres Treffen ist für den 19. März vorgesehen, viel zu spät laut Antoine Nehr:

„Bei dieser Besprechung haben wir mehrere Vorschläge gemacht: Unterbringung der Migrant_innen in kleineren Sammelunterkünften, eine mobile Klinik zur Versorgung der unterschiedlichen Camps. Wie können wir als Ehrenamtliche ein Virus diagnostizieren? Wir sind nicht dazu ausgebildet. Es ist dringend erforderlich, dass der Staat seine Verantwortung übernimmt; wenn nichts organisiert wird, bin ich der Meinung, dass die politisch Verantwortlichen Blut an den Händen haben werden.“

Zusammengepfercht und mit extrem begrenztem Zugang zu Wasser

Am Rande von Calais stehen Hunderte von Zelten dicht aneinander – in Niederwäldern, die mit Abfall übersät sind. Einige Zelten sind mit einer Plane überdeckt. Kleine Gruppen erwärmen sich bei einem Lagerfeuer, andere mittels Kerzen im Zelt. Hier klagen die Menschen über Kälte, aber auch über Ratten, die zahlreich und alles andere als scheu sind. Die Migrant_innen haben einen extrem begrenzten Zugang zu Wasser: sie verfügen nur über einen einzigen Wasserhahn, es gibt vor Ort keine einzige Dusche. Unter diesen Umständen kann man sich nicht vorstellen, wie sie sich an die Sicherheitsvorschriften der Regierung halten könnten.

Ali kommt aus dem Iran. Er lebt seit zwei Wochen im Camp. „Wenn die Polizisten kommen, müssen wir unsere Habseligkeiten nehmen und das Camp bis zum Abend verlassen“ sagt er. „Wir kommen zurück, wenn sie weg sind.“ Am Dienstag, obwohl Emmanuel Macron am Vorabend das Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkungen für die gesamte Bevölkerung angekündigt hatte, räumte die Polizei erneut das Gelände, was die räumliche Nähe der Menschen zueinander noch verstärkte.

Bis jetzt wurde zwar kein Fall von Coronavirus in dem Camp erkannt, aber die Situation ist beängstigend und Ali ist unruhig. „Ich möchte von hier weg, aber es gibt keine Alternativmöglichkeit. Ich bin 17 Jahre alt, ich habe die 115 [soziale Nothilfenummer] angerufen, aber ich warte immer noch. Ich möchte in eine Sammelunterkunft gehen, weil es wirklich hart ist, hier zu leben.“

Abi aus Äthiopien hat – wie alle anderen – Infos über die Epidemie über Internet erhalten. „Aber ich habe keine Info seitens der Regierung bekommen“, meint er. „Was ich heute sehe, ist dass wir von Polizisten (CRS) umgeben sind, die alle eine Schutzmaske tragen. Also gehe ich davon aus, dass das Coronavirus eine Gefahr darstellt. Wenn eine Gefahr besteht, dann für beide Seiten. Warum tragen wir keine Schutzmaske? Weil wir als Krankheitsträger angesehen werden? Ich fühle mich diskriminiert.“

„Ich teile ein Zelt mit drei Personen, in manchen Zelten aber leben 5 bis 6 Menschen zusammen“, erklärt Samuel, der auch aus Äthiopien kommt. „Die uns übermittelten Sicherheitsvorschriften sind nicht einzuhalten. Wir teilen alles: Zelte, Zigaretten, alles. Der Staat sollte etwas tun, aber er tut nichts für die Flüchtlinge; er hilft den Reichen, nicht den Armen. Und dennoch, zum Wohl aller ist es wichtig, dass alle geschützt werden.“

Immer noch keine Nachricht von den Behörden

Unweit von hier gibt die Hilfsorganisation La Vie Active – im Auftrag des Staates – den Flüchtlingen zwei Essen pro Tag aus. Aus Angst vor Übertragung des Coronavirus haben ihre Mitarbeiter am Montag ihr Recht auf Fernbleiben geltend gemacht. Am Dienstag waren deutlich mehr Polizisten vor Ort als sonst und alle trugen eine Schutzmaske. Ihnen gegenüber, in einigen Metern Entfernung, standen die Flüchtlinge Schlange, bevor sie einzeln auf die vergitterte Esplanade gelangen konnten, wo die Essensausgabe stattfindet. Vor dem Tor warteten mehrere Dutzend Personen eng beieinander, ohne jegliche Sicherheitsvorkehrung.

„Die einzige uns gegebene Vorschrift lautet: Händewaschen vor und nach dem Essen; die einzige Maßnahme, die bis jetzt umgesetzt wurde, besteht in Seife und zwei zusätzlichen Wasserhähnen in dem Raum, wo die Essensausgabe stattfindet“ erklärt, verblüfft, Valentin, der ehrenamtlich für Utopia 56 tätig ist. „Als Hilfsorganisation, die für medizinische Versorgung zuständig ist, haben wir keine andere Anweisung erhalten, als dafür zu sorgen, dass Kranke in ihrem Zimmer bleiben … was in der jetzigen Situation unmöglich ist.“

„Im Verdachtsfall rufen wir die 15 an und der medizinische Notdienst (SAMU) schätzt die Situation telefonisch ein. Sollte die Lage Besorgnis erregend sein, kann die Person ins Krankenhaus von Boulogne-sur-Mer geschickt werden. Bis jetzt wurde hier niemand auf das Virus getestet und für diejenigen, bei denen ein Verdacht bestand, wurde nichts weiter unternommen. Diese paar Leute wurden zu ihren Schlafplätzen zurückgeschickt, sprich in den Jungle.“

Am Dienstagabend hatten die Hilfsorganisationen immer noch keine Nachricht von den Behörden erhalten. Im Laufe des Tages wurden einige Ehrenamtliche daran gehindert, ins Camp zu gelangen, das gerade geräumt wurde, obwohl sie im Besitz des erforderlichen Passierscheins (Ausgeherlaubnis) waren. Antoine Nehr erklärt, dass die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen in der Not überlegen, wie sie weiter verfahren sollen. „Wenn die Behörden nichts tun, können wir nicht einfach zu Hause bleiben und nichts unternehmen.“

Update, Mittwoch 18. März, 13:00: Heute Morgen hat die Präfektur der Region Hauts-de-France auf das Kommuniqué der Hilfsorganisationen per Mail geantwortet. Sie listet die bereits umgesetzten Maßnahmen auf: Infoflyer, Seife, Vorschriften bezüglich räumlicher Distanzierung. Sie erwähnt auch die für „die nächsten Tage“ vorgesehene Umsetzung einer Maßnahme zur Erfassung und Unterbringung von Verdachtsfällen in centres de « desserrement » [etwa: Notunterkünfte zur Absonderung], aber lediglich für Personen mit entsprechenden Symptomen. Es ist keine Maßnahme zum Schutz der Migrant_innen vor der Epidemie vorgesehen. Laut Antoine Nehr, Koordinator bei Utopia 56 in Calais, hinderte die Polizei heute Morgen die Camp-Bewohner_innen daran, das Camp zu verlassen sowie einige Ehrenamtliche, das Camp zu betreten.

Jungle an der Rue des Huttes, Calais. (Foto: Passeurs d’hospitalités)

Abgeschirmt draußen: Noch keine Schutzmaßnahmen für die Migrant_innen an der französisch-britischen Grenze

von Julia Druelle, Passeurs d’hospitalités, 20. März 2020

Drei Tage nach Beginn der allgemeinen Ausgangssperre hatte man noch immer nicht über einen Schutz für die zahlreichen Migrant_innen in den Camps an der Nordküste entschieden.

Am Mittwoch kündigte die Präfektur der Region Hauts-de-France an, dass „in den nächsten Tagen“ eine Maßnahme durchgeführt werde, durch die verdächtige Fälle ausgemacht und in Abgrenzungszentren verbracht werden würden, jedoch nur solche Personen, die bereits Symptome aufwiesen. Während einer Telefon-/Webkonferenz am 19. März bestätigte die Unterpräfektur diesen Entschluss. Vorsorgliche Schutzmaßnahmen zur Unterbringung der Menschen, die in den gesundheitsgefährdenden Camps leben, sind nicht geplant.

Während der erlaubte Bewegungsradius der Migrant_innen aufgrund der Ausgangssperre auf die unmittelbare Umgebung des Camps begrenzt ist, prangert Antoine Nehr, Koordinator in der Hilfsorganisation Utopia 56, die Unterdrückungspolitik der Regierung an. „Die Vertreibungen vom Gelände werden fortgeführt. Seit mehreren Tagen haben die Menschen keinen Zugang mehr zu Elektrizität, weil sie abgestellt wurde. Zurzeit besteht nur Zugang durch Generatoren, die die Hilfsorganisationen gebracht haben. Das ist umso beunruhigender, als Handys notwendiger sind denn je: um Informationen zu bekommen, den medizinischen Notdienst anzurufen und mit der Familie in Kontakt zu bleiben.“

„Selbst in der jetzigen Krisensituation verfolgen die Behörden weiter diese extrem feindselige Politik, die das Leben mehrerer hundert Menschen gefährdet. Die Situation verschlechtert sich noch in dem Moment, wo man dringend eine würdige Unterbringung für diese Menschen fordern muss“, beklagt er. „Das ist nicht zu verstehen.“

Übersetzt aus dem Französischen von Nicole Guyau und Brigitte Vogt-Klein.