Die Räumungen, der Ministerbesuch und eine französisch-britische Vereinbarung
Besuche französischer Innenminister nach erfolgter Räumung von Camps sind ein wiederkehrendes Motiv in der Geschichte der Calaiser Migration. Auch die Räumungswelle des 10. und 11. Juli, die von lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen als die heftigste und brutalste seit Jahren beschrieben wurde (siehe hier und hier), hat eine solche Bühne geschaffen, auf der nationale Politiker_innen ihre Handlungsmacht demonstrieren und ihre lokalen Kolleg_innen ihre Forderungen artikulieren konnten: Am 12. Juli 2020 besuchte der neue französische Innenminister Gérald Darmanin Calais. Er traf dort auch mit seiner britischen Amtskollegin Priti Patel zusammen. Beide schlossen ein Abkommen zur Schaffung einer grenzpolizeilichen Nachrichteneinheit. Gleichzeitig überschlugen sich die Ereignisse.
Bereits im Vorfeld des Ministerbesuchs hatte die Calaiser Bürgermeisterin Natacha Bouchart die Erwartung geäußert, in Darmanin einen Verbündeten für ein härteres Vorgehen gegen die Migrant_innen zu finden. Darmanin entstammt wie sie der rechten Partei Les Républicains, deren stellvertretender Generalsekretär er zeitweise war und deren Präsidentschaftskandidat Nicolas Sakozy er als Wahlkampfkoordinator unterstützte. Wie die Bürgermeisterin von Calais war auch er zweiweise Bürgermeister einer nordostfranzösischen Kommune (Tourcoing) und bekleidete leitende Ämter der Region Hautes-de-France. Bei seinem Besuch in Calais überreichte Bouchart ihm eine Sammlung angeblich aller Beschwerden der lokalen Bevölkerung über die Migrant_innen und kommentierte dies gegenüber der Lokalzeitung La Voix du Nord mit den Worten: „Er kennt die Gegend von Calais, war sich aber der Auswirkungen der Migration auf die Bevölkerung nicht unbedingt bewusst. Wir haben ihm alle Beschwerden gegeben, die wir erhalten. Er ging mit einem großen Paket“. Der Minister habe erklärt, allen Beschwerdefüher_innen antworten zu wollen. Abstrakt gesprochen, zielte die Überreichung der Beschwerden auf die plebiszitäre Legitimation staatlicher Gewalt durch das Narrativ einer Mehrheitsgesellschaft, die Opfer der Migration geworden sei, so als hätten die Migrant_innen in den Camps nicht erheblich gravierendere Gründe zur Klage.
Die Lokalzeitung La Voix du Nord benennt vier konkrete Forderungen der Bürgermeisterin an den Minister: Erstens erbat sie „mehr Plätze in Aufnahme- und in Verwaltungshaftzentren“, also eine Ausweitung der Kapazitäten, die für weitere Räumungen und im Falle der Haftzentren auch für Abschiebungen erforderlich sind. Zweitens forderte sie, „wirtschaftlich unterstützt zu werden“. Mit der (leicht widerlegbaren) Behauptung, die Migration trüge Schuld an den sozioökonomischen Problemen der Region, hatte die Bürgermeisterin in der Vergangenheit recht erfolgreich Fördermittel für ihre Stadt akquirieren können, die insofern sogar von den Geflüchteten profitiert hat. Drittens forderte Bouchart eine Überprüfung der französisch-britischen Abkommens von Le Touquet, das 2003 u.a. die Externalisierung britischer Grenzkontrollen auf französisches Gebiet regelt und damit ein wesentlicher Grund für die Anwesenheit der Migrant_innen in Calais ist. Viertens schlug sie die Schaffung einer „Grenzzone“ (zone frontière) nach dem Vorbild der italienisch-französischen Grenze zwischen Ventimiglia und Menton vor, in der es rechtlich möglich sei, „härter gegen Störungen der öffentlichen Ordnung vorzugehen“. Wirklich neu von diesen Forderungen ist lediglich dieser Wunsch nach der „Grenzzone“. Ob er Teil des politischen Diskurses oder gar des Grenzregimes werden wird, bleibt jedoch abzuwarten.
Auch der Répuplicains-Abgeordnete und ehemalige Bürgermeister der Nachbargemeinde Marck, Pierre-Henri Dumont, nutzte den Ministerbesuch zu einem Statement. Großbritannien müsse im Rahmen der Brexit-Gespräche dazu gebracht werden, eine Asylantragstellung bereits während der Migration zuzulassen, sodass die Migrant_innen nicht auf Schmuggler angwiesen seien. Angesichts der Bootspassagen seien andernfalls „Leichen an unseren Stränden“ zu befürchten. Die britische Regierung könne „so viel Stacheldraht bezahlen, wie sie will, die Migranten werden es immer schaffen durchzukommen“, so die durchaus realistische Einschätzung des Politikers.
Für den Minister gehörten der gut zweistündige Calais-Besuch und die vorbereitenden Räumungen zu seinen ersten größeren Amtshandlungen und waren somit ein migrationspolitisches Statement. Auch Sarkozy hatte die Calais-Migration 2002 genutzt, um sich nach seinem Karrieresprung zum Innenminister zu profilieren – damals durch die vorzeitige Räumung eines in der Nachbargemeinde Sangatte bestehenden humanitären Aufnahmelagers, das die nationale und internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.
Der Besuch des Ministers düfte also zu einem guten Teil symbolpolitisch motiviert gewesen sein. Aber er bot auch den Rahmen für ein Treffen zwischen Darmanin und seiner Ministerialdeligierten Marlène Schiappa einerseits und der britischen Innenministerin Priti Patel und ihrem für Einwanderung zuständigen Vertreter Chris Philip andererseits, das in der Unterpräfektur von Calais stattfand. Medienberichten zufolge unterzeichneten die Minister eine zwischenstaatliche Vereinbarung über die „Schaffung einer französisch-britischen Nachrichten-Einheit zum Thema Migration“ (creation of a Franco-British intelligence unit on the issue of migration). Die Einheit werde es, so Darmanin, „unseren jeweiligen Diensten ermöglichen, die von ihnen gespeicherten Informationen, insbesondere über die Schmuggler-Netzwerke, auf operative Weise weiterzugeben“. Dabei würden sechs britische und sechs französische Polizeibeamte „im Kampf gegen die Schmuggler“ zusammenarbeiten.
Verstärkte Polizeizusammenarbeit zur Reduzierung der Migration durch koordinierte Ermittlungen gegen Schmuggler ist alles andere als neu. Vielmehr wird dies seit einem 2009 in Evian unterzeichneten Verwaltungsabkommen beider Staaten sukzessive vorangetrieben und u.a. in Form des UK-France Coordination and Information Centrre bzw. Centre Conjoint d’Information et de Coordination (CICC) umgesetzt, das 2018 seine Tätigkeit aufnahm. Insbesondere der Austausch von intelligence verschiedener Sicherheitsbehörden beider Staaten ist seit ein fester Bestandteil dieser Agenda. Die nun geschlossene Vereinbarung stellt allenfalls eine Nachjustierung innerhalb dieser Struktur dar. Auch die Ankündigung eines „crack down on the gangs behind this vile people smuggling operation“ (so Patel gegenüber BBC über ihre Vereinbarung mit Darmanin) durchzieht diesen Prozess seit Jahren.
Insofern fügt sich die Vereinbarung in die Inszenierung einer Handlungsmacht, die von den tatsächlichen Migrationsdynamiken überholt wurde und offenbar in eine politische Pattsituation zwischen Großbritannien und Frankreich gemündet ist. Sehr wahrscheinlich zielt die britische Seite auf die Implementierung einer zwischenstaatlichen Vereinbarung, um Migrant_innen ohne Prüfung ihres Asyl- oder Flüchtlingsstatus unmittelbar nach Frankreich zurückschieben zu können. Und sehr wahrscheinlich ist Frankreich nicht bereit, eine solche Vereinbarung abzuschließen. Nach der Ankündigung, entsprechende Verhandlungen führen zu wollen, kam es Mitte Mai zu mehreren Rückschiebungen größerer Gruppen von Geflüchteten, die per Boot nach Großbritannien gelangt waren (siehe hier), und etwa zur gleichen Zeit wurde vage bekannt, dass unter dem Namen „Operation Sillath“ an einer Ausweitung von Rückschiebungen nach Frankreich gearbeitet wird (siehe hier und hier). Wenn nun also in Calais über zwölf Beamt_innen gesprochen wurde, die in einer bereits bestehenden Struktur an einer bereits vom Langem definierten Aufgabe arbeiten sollen, so ist dies – sollt es das vollständige Calaier Verhandlungsergebnis sein – eine Einigung beider Minister_innen auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner.
Der Ministerbesuch war also möglichwerweise viel weniger relevant wie der Kontext, in dem er stattfand, und sie lokalen Dynamiken, die er auslöste. Wie die BBC berichtet, versuchten am gleichen Tag etwa 200 Personen, Großbritannien per Boot zu erreichen. Zwar sei, so der Sender, nicht genau bekannt, wie viele die Insel erreichten, doch habe der bisherige Tageshöchstwert erfolgreicher Bootspassagen bislang bei 166 Personen gelegen. In der Nacht vor dem Ministerbesuch beendeten die franzsischen Behörden außerdem mehrere Bootspassagen in der Umgebung von Calais. Am oder im hochgradig gesicherten Fährhafen von Calais seien einige Stunden nach dem Ministerbesuch zwölf Migrant_innen aus dem Wasser gerettet worden, so La Voix du Nord. Das Blatt meldete außerdem den Fall eines jungen Iraners, der am Morgen des gleichen Tages in Calais von einem Autofahrer verletzt worden sei, wobei noch unklar sei, ob es sich um einen Unfall oder einen gezielten Angriff gehandelt habe.
In dieser angespannten Situation verschlechterten die Räumungen die Situation der Menschen in den Camps auch dann, wenn sie selbst nicht unmittelbar betroffen waren, denn sie verknappten die ohnehin prekären Ressourcen an Räumen und Hilfsgütern zusätzlich. Gleichzeitig kehrten die ersten derjenigen zurück, die während der Räumung in Aufnahmezentren gebracht worden waren. Die humanitäre Organisation Care4Calais berichtet von Rückkehrern „walking for days with no food or sleep. But now they have absolutely nothing except their unbreakable will to survive.We have given out hundreds of sleeping bags, blankets, and tarpaulins. But this has decimated our stocks.“
Die unmittelbare und faktische Wirkung des Ministerbesuchs geschah wahrscheinlich nicht auf der grenzpolitischen Bühne, sondern entstand im Zuge ihrer Herstellung.