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„Man tötet kleine Mädchen nicht mit einer Kugel in den Kopf. Niemals“

Juristische Vorentscheidung im „Fall Mawda“

In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 2018 endete eine Schleusung von Nordfrankreich über Belgien nach Großbritannien in einer Katastrophe. Auf einer Autobahn nahe der belgischen Stadt Mons schoss ein Polizist während einer Verfolgungsfahrt auf den Kleintransporter, in dem sich die Geflüchteten befanden. Dabei tötete er ein Kind: Die zweijährige Madwa, die mit ihrer kurdischen Familie in den Camps von Grande-Synthe und zuvor in Deuschland gelebt hatte. Der „Fall Mawda“ erregte in Belgien erhebliche Aufmerksamkeit. Nun fiel eine juristische Vorentscheidung bezüglich der Anklage gegen den Täter.

Die Chambre du conseil (Ratskammer) des zuständigen Gerichts in Mons behandelte den Fall am 8. Juli 2020. Im belgischen Rechtssystem ist dies der Schritt des Prozesses, bei dem entschieden wird, ob und wie ein Fall weiter verfolgt werden soll, woraus sich dann die gerichtliche Zuständigkeit ergibt. Aus diesem Anlass hatten zahlreiche Wissenschaftler_innen, Jurist_innen, Künstler_innen, Aktivist_innen und Organisationen eine Erklärung veröffentlicht, in der sie eine Einstufung des Falles als Mord forderten. Auch die Familie des Kindes drängt auf eine solche Anklage. Die Staatsanwaltschaft hatte die Tat hingegen als homicide involontaire (fahrlässige Tötung) bewertet. In der Erklärung heißt es u.a.:

„Es sei daran erinnert, dass kein Migrant eine Waffe hatte. Nur der Polizist feuerte. Er wusste, dass er mit seiner Waffe jemanden töten konnte, und er tötete Mawda, ein zweijähriges Mädchen, das durch einen Kopfschuss getötet wurde. Dieser Fall wirft viele Fragen darüber auf, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Was ist falsch an der Ausbildung von Polizeibeamten, die glauben, es sei legitim, auf einen Lieferwagen voller fliehender Migranten zu schießen? Was geht einem Polizeibeamten durch den Kopf, das die Verhaftung so wichtig erscheinen lässt, dass in seinen Augen die Gefährdung von Menschenleben notwendig ist? […] Aber über die Ausbildung von Polizeibeamten und die Organisation der Polizei […] hinaus müssen wir uns Fragen über die Organisation der Straflosigkeit stellen. Die Justiz kennt diese Gewalt, sieht sie und verschließt die Augen. […] Das muss aufhören. Polizeigewalt ist nicht legitim. Sie ist unerträglich. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Mawda hätte nicht sterben dürfen, denn der Polizist hätte nicht schießen dürfen. […]

Man tötet kleine Mädchen nicht mit einer Kugel in den Kopf. Niemals. Eine Entlassung oder Aussetzung der Strafe für den Polizeibeamten wäre eine echte Provokation. Man schießt nicht, während man seine Waffe auf den Fahrer des Lieferwagens richtet, ohne die Absicht zu töten. Die Qualifikation als fahrlässige Tötung ist absolut unangebracht; wenn diese Qualifikation von der Ratskammer Mons beibehalten würde, könnte sie als implizite Lizenz zum Töten interpretiert werden.“

Die Ratskammer qualifizierte die Tat nun als fahrlässige Tötung und verwies den Fall an das Korrektionalgericht (Strafgericht) in Mons und nicht an den für Mordfälle zuständigen Assisenhof (Schwurgericht). Wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, werden außerdem der Fahrer des Kleintransporters und der mutmaßliche Schleuser wegen Verkehrsbehinderung mit Todesfolge belangt.

Zum Hintergrund: Der Transporter mit den Menschen aus Grande-Synthe war bei Namur in Belgien gestartet. Das überladene und langsam fahrende Auto war dann auf der Autobahn aufgefallen und von der Polizei zunächst diskret verfolgt worden. Danach plazierte sich ein zweites Polizeifahrzeug vor dem Transporter und wies dessen Fahrer gegen 1:40 Uhr an, an der Ausfahrt Sambreville die Autobahn zu verlassen. Der Fahrer scherte jedoch von der Auffahrt wieder auf die Autobahn und touchierte leicht ein anderes Auto, was der heikelste Moment des gesamten Geschehens bis zu den Schüssen sein sollte. Der Einsatzleiter forderte nun Straßensperren an der knapp 80 km entfernten Grenze zu Frankreich und an den bis dort verbleibenden Abfahrten an. Der Transporter, der nun von vier Polizeifahrzeugen verfolgt wurde, konnte also nicht mehr entkommen. Eine zufällig in der Nähe anwesende Streifenwagenbesatzung einer anderen Polizeidienststelle wurde gebeten, auf den Konvoi zu warten und sich ihm dann anzuschließen. Da der Polizei durch Sichtkontakt bekannt war, dass sich zahlreiche Menschen und auch ein Kind in dem Transporter befanden, wurde dieser zusätzliche Streifenwagen angewiesen, keinen Versuch zu unternehmen, das Fahrzeug zu stoppen. Der Transporter erreichte diesen Streifenwagen kurz vor 2:00 Uhr. Maximal drei Minuten später gab ein Polizist aus diesem Wagen den fatalen Schuss auf die Beifahrerseite des Transporters ab, der unmittelbar darauf auf einem Parkplatz anhielt.

(Eine Zusammenfassung des Geschehens findet sich in: Thomas Müller, Uwe Schlüper, Sascha Zinflou: Querung des Kanals, hrsg. v. bordermonitoring.eu, München 2019, S. 39-41)