Vier Tote, ein vermisstes Kleinkind, 15 Personen, die mit zum Teil schweren Unterkühlung im Krankenhaus liegen: das Bootsunglück vor Loon-Plage bei Dunkerque am Dienstag ist die bisher größte Flüchtlings-Katastrophe im Ärmelkanal. An der grundlegenden Konstellation ändert sich am Tag danach nichts: während Unterstützer- und Menschenrechtsorganisationen sichere Passagen nach Großbritannien fordern, droht die Regierung in London den Schleusern. Für MigrantInnen wird die Lage kurz vor dem Winter immer unerträglicher.
Am gestrigen Dienstag ertranken vier iranische Migrantinnen kurz vor der Hafenstadt Dunkerque. Offenbar waren sie in einem kleinen Fischerboot unterwegs in Richtung England. Gegen halb zehn am Morgen sah ein Segler, dass das Boot etwa zwei Kilometer vor der Küste in Seenot geraten war, und alarmierte die französische Küstenwache. Eine Person ertrank, als das Boot umschlug. Die anderen drei starben, nachdem sie gemeinsam mit 15 weiteren Passagieren aus dem Wasser gezogen worden waren. Die Rettungsaktion, an der vier französische Rettungsboote und ein Helikopter aus Belgien teilnahmen, dauerte mehrere Stunden. 15 Personen wurden mit teilweise schweren Unterkühlungssymptomen in Krankenhäuser in Calais und Dunkerque gebracht.
Zwei der Toten waren Kinder im Alter von fünf und acht Jahren, wie der Guardian unter Berufung auf die französischen Behörden berichtete, die anderen eine Frau und ein Mann. Vermutet wird, dass auch zumindest ein Teil der geretteten Passagiere aus dem Iran stammen. Eine Person wurde am Dienstag noch vermisst. Es heißt, dass es sich dabei wohl um ein weiteres Kind handele. Wie die Regionalzeitung La Voix du Nord am Mittwoch berichtet, wurde die Suche inzwischen aufgegeben. Nach Aussage anderer Passagiere soll bei dem Unglück ein Baby ins Wasser gefallen sein.
In sozialen Netzwerken meldeten sich am Mittwoch mehrere Personen die die Toten kannten. Es soll um eine Familie aus Sardasht im Westen des Iran gehen, darunter auch der 15monatige Artin. Seine Geschwister heißen Armin und Anita und waren demnach sechs und neun Jahre alt, die Eltern, Shivam und Rasool, jeweils 35. Die Ärztin Stephanie De Maesschalck, die häufig in Grande-Synthe ist und die Familie vor zwei Wochen in einem Camp im Puythouck-Gebiet kennelernte, verabschiedet sich mit emotionalen Worten von Artin. “Er spielte Samstag letzter Woche noch im Wald von Puythouck in seinen zu großen Gummistiefeln im Matsch. Seine Eltern, Bruder und Schwester waren zusammen mit ihm unterwegs nach England. Puythouck war der letzte Zwischenstop.”
Während Artin das Auto der Ärztin zum Spielen entdeckt hätte und begeistert hinein- und hinausgeklettert sei, stand seine Schwester offenbar daneben, “ganz in rosa Outfit, mit dem Blick eines Kindes, das schon zu viel gesehen hat. Artin brachte Freude. Und Hoffnung. Letzte Nacht ist Artin ertrunken, irgendwo im kleinen Stückchen See zwischen Loon-Plage und England.”
Schlechte Wetterbedingungen sollen für das Kentern des Boots verantwortlich gewesen sein. Das meteorologische Amt der britischen Regierung hatte für die vorherige Nacht eine Warnung wegen stürmischer Winde erlassen. Die Wassertemperatur lag zur Zeit des Unglücks knapp unter 14 Grad. Bei 15 Grad kann ein Mensch zwei Stunden überleben, mit Glück auch bis zu sechs. Dennoch ist dies selbst für geübte Schwimmer ein Wert, der ohne Erfahrung in entsprechend kaltem Wasser schnell kritisch werden kann. Bedenkt man, dass die Temperatur in den kommenden Wochen schnell sinken wird und viele derjenigen, die den Ärmelkanal mit Booten überqueren, nicht einmal schwimmen können, ergibt sich bezüglich der Überlebens-Chancen im Fall einer Havarie ein äußerst beklemmendes Bild.
In Calais kamen am Mittwochabend, wie immer, wenn das Grenzregime Todesopfer gefordert hat, trauernde Menschen am Parc Richelieu zusammen, um ihrer zu gedenken. Die Aktivistin Maya Konforti nennt es am Nachmittag zuvor den “tragischsten Tod jemals an dieser Küste”. Die Windrichtung (Südwest) zur Zeit des Unglücks sei “very unsafe” gewesen, zumal das Boot zuerst ein Stück nach Süden hätte navigieren müssen. Dabei hätte man mit Sicherheit auf hohe Wellen getroffen. Hinzu kommt offenbar, dass das Boot hoffnungslos überladen gewesen sei: “Es war ausreichend für vier oder fünf Leute, nicht für 20!”
In einer Stellungnahme von L´Auberge des Migrants auf Facebook heißt es: “Trauer, Scham, Wut. Vier Tote, einschließlich zweier Kinder, zwei Vermisste, einschließlich eines Babys. Ihr Boot kippte um und sank. Trauer, über diese verlorenen Leben, hoffend auf ein sichereres Leben. Scham, weil unser Land dabei versagt hat sie willkommen zu heißen. Wut, weil die Regierung nur die Schleuser verantwortlich machen wird. Ja, Schleuser sind Kriminelle, aber es sind die französischen und britischen Autoritäten, die verantwortlich sind. Die Grenze zu blockieren bedeutet das Geschäft der Schleuser zu kreieren. Ohne legale Routen wird es noch mehr Tote geben.”
Care4Calais rief die britische Regierung einmal mehr auf legale Routen einzurichten. Die Toten seien “ein Wake-up Call für die Mächtigen in Frankreich und dem Vereinigten Königreich”. Save the Children forderte: “Der Ärmelkanal darf nicht zum Friedhof für Kinder werden.” Die unlängst erst gegründete Initiative Channel Rescue kommentiert: “Dies ist eine aufkommende humanitäre Krise, in der Männer, Frauen und Kinder ihr Leben riskieren auf der Suche nach dem Schutz, der ihnen laut internationalen Abkommen, die das Vereinigte Königreich unterzeichnet hat, zusteht. Die Regierung muss dringend sichere und legale Passagen ermöglichen.”
Premierminister Boris Johnson kündigte unterdessen einmal mehr an hart gegen Schleuser vorzugehen. Dan O´Mahoney, der seit August als Clandestine Channel Threat Commander des Londoner Innenministeriums die Kanal-Überquerungen beenden soll, betonte, die “tragischen Ereignisse” unterstreichen die Bemühungen die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.