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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Räumungen und Beschlagnahmungen: Eine Zwischenbilanz

Räumung in Calais am 2. März 2021. Beschlagnahmt wurden u.a. 26 Zelte. (Foto: Human Rights Observers)

In Calais und Grande-Synthe wurde im vergangenen Jahr mehr als 1.000 mal ein migrantisches Camp geräumt, und nahezu bei jeder dieser Operationen wurden Schutzgüter und persönlicher Besitz der Geflüchteten beschlagnahmt. Erwartungsgemäß setzt sich diese Politik der gezielten Prekarisierung auch in diesem Jahr fort. Allein im Januar und Februar wurden in Calais und Grande-Synthe 206 Räumungen dokumentiert, in deren Verlauf mindestens 1.318 Zelte und 587 Schlafsäcke beschlagnahmt (d.h. in vielen Fällen: zerstört) wurden. Der Umfang der Beschlagnahmungen liegt damit um das Dreifache höher als vor einem Jahr. Und es zeichnet sich ab, dass auch die in Nordfrankreich seit Anfang März virulente dritte Welle der Corona-Pandemie nicht zu einem Aussetzen dieser Operationen führen wird.

Räumung in Calais, Februar 2021 (Foto: Human Rights Observers)

Die Initiative Human Rights Observers dokumentiert die Räumungen weiterhin in monatlichen Berichten. In Calais wurden im Januar 101 und im Februar 93 Räumungen beobachtet. Die meisten geschahen im Rahmen der hier bereits mehrfach beschriebenen Routine (siehe etwa hier), bei der im Abstand von 48 Stunden die meisten Camps nacheinander geräumt werden, um anschließend von ihren Bewohner_innen neu aufgebaut zu werden – allerdings ohne die zuvor beschlagnahmten Gegenstände: Dies waren im Januar 315 Zelte und Planen, 198 Schlafsäcke und Decken, 38 Taschen und 10 mal Kleidung, im Februar 312 Zelte und Planen, 276 Schlafsäcke und Decken, 48 Taschen und 55 mal Kleidung. Gegenüber den Vorjahresmonaten war die Zahl der Räumgen leicht zurückgegangen. Allerdings erhöhte sich die Menge des beschlagnahmten Materials massiv: bei den Zelten und Planen von insgesamt 206 im Januar und Februar 2020 auf 627 im gleichen Zeitraum dieses Jahres, bei den Schlafsäcken und Decken von 145 auf 474, bei den Fällen beschlagnahmter Kleidung von 26 auf 64.

Insgesamt wurde im Januar 2021 also etwa die dreifache Menge von Schutzgütern beschlagnahmt wie im Vorjahr. Da die gängigen Igluzelte oft von zwei Personen genutzt werden, dürfte die Anzahl der Fälle, bei denen jemand in diesen beiden Wintermonaten – mit einer heftigen Frostperiode im Februar – ohne ein Zelt dastand, sogar noch deutlich höher liegen. Weitere beschlagnahmte Güter in diesem Zeitraum waren Fahrräder (6), Mobiltelefone bzw. zugehörige Batterien (15), Matratzen (10), Brennholz (3 mal), Medikamente (2 mal) und Dokumente (1 mal).

Beschlagnahmung in Grande-Synthe am 5. März 2021. (Foto: Human Rights Observers)

Auch in Grande-Synthe wurden sehr viel mehr Güter beschlagnahmt als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Aufgrund einer anderen lokalen Polizeitaktik, in der die Calais-typischen 48-Stunden-Räumungen nicht vorkommen, liegt die Zahl der Räumungen mit 12 (davon 7 im Januar und 5 im Februar) deutlich niedriger als in Calais. Allerdings wurden allein im Januar 230 und im Februar 461 Zelte und Decken beschlagnahmt, in beiden Fällen deutlich mehr als Vergleichszeitraum 2020 (damals insgesamt 64; ähnlich bei den Schlafsäcken).

Die Räumungen in Grande-Synthe sind zumeist größere Operationen. Wie die Human Rights Observers berichten, wurden bei einer Räumung im Januar „alle in den Zelten befindlichen Schlafsäcke, Decken und Kleider herausgenommen und in den Schlamm geworfen“, ähnlich im Februar: „Polizeibeamte und Räumungsteams laufen ständig über Decken und Kleidung, im Schlamm.“ Dreimal im Januar wurde beobachtet, dass Zelte mit dem Messer zerschnitten wurden – eine in Grande-Synthe bereits früher dokumentierte Vorgehensweise (siehe u.a. hier) –, in zweien dieser Fälle befanden sich noch Personen im Innern. Außerdem dokumentierten die HRO eine verquere Form der Selbstinszenierung: „Beamte der Einsatzkräfte posierten zu vier verschiedenen Anlässen für ‚Souvenir‘-Fotos inmitten von Räumungen.“

Räumungen in Grande-Synthe, Februar 2021. (Video: Human Rights Observers)

Im Februar beobachteten die Human Rights-Observers erstmals den Einsatz schwerer Maschinen während der Räumungen (siehe Video oben); diese wurden eingesetzt, als sich noch Personen im Camp aufhielten. Hinzu kamen weitere Zerstörungen von Zelten mit dem Messer (fünf Mal, jeweils befanden sich noch Personen im Zelt), verbale Attacken gegen Campbewohner_innen (u.a. die Aufforderung, nur in Französisch zu kommunizieren, da man ja in Frankreich sei) und nicht zuletzt die Behinderung der HRO-Teams in insgesamt 36 Fällen.

Weitere Räumungen in Grande-Synthe folgten am 5. März (für die Betroffenen das zweite Mal innerhalb einer Woche) und am 19. März (siehe Video unten).

Räumung in Grande-Synthe am 19. März 2021. (Video: Human Rights Observers)

Diese Entwicklung überschneidet sich mit dem Beginn der dritten Welle der Corona-Pandemie, die auch in Frankreich durch die sogenannte britische Variante des betreffenden Virus gekennzeichnet ist. Einen der ersten Corona-Hotspots bildete Anfang März Dunkerque, wo am 5. März gleichwohl eine kleine Protestkundgebung mehrerer lokaler Organisationen gegen die Lebensbedingungen und Räumungen in Grande-Synthe abgehalten wurde. Grande-Synthe ist geographisch ein Vorort von Dunkerque, also unmittelbar vom dortigen Infektionsgeschehen berührt. Inzwischen wurde im gesamten Norden Frankreichs zum dritten Mal ein Confinement, also eine strikte Ausgangsbeschränkung, verhängt. Während der beiden vorherigen Wellen der Pandemie sind die Räumungen und Beschlagnahmungen schlicht weitergegangen. Die jüngsten Räumungen in Grande-Synthe und Calais lassen vermuten, dass es ein drittes Mal so sein wird.

Hinweis: Zu den Räumungen in Grande-Synthe siehe auch die Fotoreportage von Pedro Brito da Fonseca.