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Calais Channel crossings & UK Dunkerque & Grande-Synthe

Drohnen und Zellophan

Die Bootspassagen, ihre Verlagerung nach Dunkerque und ein improvisiertes Kanu in Calais

Nordfrankreich, Belgien und der Ärmalkanal. Die Markierung zeigt Leffrinckoucke bei Dunkerque, wohin sich ein Teil der Bootspassagen verlagert hat und wo die französischen Behörden am 19. Mai ihr neues Equipment präsentierten. (Karte: Openstreetmap)

Mehr als 3.000 Geflüchtete haben Großbritannien seit Jahresbeginn in kleinen Booten erreicht, etwa ein Drittel von ihnen trotz phasenweise ungünstiger Witterung im Laufe des Mai. Dies sind etwa doppelt so viele Personen wie im Vorjahreszeitraum, als die gleiche Anzahl erfolgreicher Passagen erst in der zweiten Julihälfte registriert wurde. Infolge der stärkeren Kontrolle der französischen Küste bei Calais rückt nun der Küstenabschnitt zwischen Dunkerque und der belgischen Grenze stärker in den Fokus. Doch auch von Calais legen weiter Boote ab. Ende Mai wurde dort sogar ein Boot entdeckt, das aus Stöcken und Zellophan zusammengesetzt worden war.

Am 19. Mai 2021 berichtete die Zeitung Le Phare dunkerquois über einen Pressetermin am Strand von Leffrinckoucke. Der kleine Ort liegt östlich von Dunkerque, dort wo das geschlossene Siedlungsgebiet endet und in einen weitläufigen Dünenstreifen übergeht, der die Küste bis nach Belgien hinein begleitet. Anders als im Westen von Dunkerque, wo der Zugang zur Küste durch große Industrie- und Hafenanlagen verstellt ist (und sich die momentan von massiven Räumungen betroffenen Camps von Grande-Synthe befinden), ist der Strand rund um Leffrinckoucke entweder direkt von einer Strandpromenade oder durch die Dünen erreichbar. Boote für die Querung des Kanals können leicht zu Wasser gelassen oder in Strandnähe versteckt werden. Allerdings vergrößtert sich mit jedem Kilometer in Richtung belgischer Grenze der Seeweg nach Großbritannien fast um die gleiche Distenz und wird entsprechend riskanter.

Folgen wir dem Bericht der Zeitung, traf der britische Koordinator zur Bekämpfung der Channel crossings, Dan O’Mahoney, in Leffrinckoucke mit seiner französischen Kollegin Anne Cornet (in ihrer Funktion als préfète déléguée pour la défense et la sécurité de la zone Nord) zusammen. Hintergrund waren offenbar Gespräche über die zur Bekämpfung der Bootspassagen eingesetzten Mittel und das von Großbritannien bereitgestellte Budget. Die Zeitung bezog sich auf die am 28. November 2020 getroffene Vereinbarung zwischen Frankreich und Großbritanniern mit einem Finanzvolumen von 31,4 Millionen € (siehe hier) und zitierte Cornet mit der Aussage, sie sei „zuversichtlich, dass der Betrag für 2021 ebenso interessant sein wird.“

In Leffrinckoucke wurde auch das technische Equipment präsentiert, das die französischen Sicherheitsbehörden (Polizei, Gendarmerie, CRS) aufgrund der Vereinbarung vom vergangenen Jahr erhalten haben oder noch erhalten werden. Genannt werden u.a. eine teils berittene Einheit von Gendarmerie-Reservisten mit einer Stärke von 100 Mann, Drohen (zum Stückpreis von 30.000 €), Nachtsichtgeräte, Allradfahrzeuge, Motorräder und Quads. Als Einsatzbereich der Drohnen nannte Cornet, „Bewegungen rund um die Strände“ zu erkennen und „die Abfahrt von Booten“ zu verhindern.

Außerdem fand ein Treffen mit Gendarmerie-Reservisten statt, die im Dünengebiet von Zuydcoote patrouillieren. Mit Zuydcoote befindet damit ein Strandabschnitt im Fokus der Sicherheitsbehörden, der nur wenige Kilometer von der belgischen Grenze entfernt liegt.

Der Küstenabschnitt zwischen Grande-Synthe und Dunkerque im Westen und der belgischen Grenze im Osten. In der Mitte des Ausschnitts liegt Leffrinckoucke. (Karte: Openstreetmap)

Bemerkenswert an diesen Vorgängen ist, dass dieser Küstenabschnitt in der britisch-französischen Vereinbarung vom 28. November 2020 gar nicht genannt wird. Diese bezieht sich vielmehr auf verstärkte Kontrollen und verbesserte Kontrolltechnologien zwischen Boulogne-sur-Mer und Dunkerque, also in dem Küstenabschnitt östlich und südwestlich von Calais. Offenbar wurde die Vereinbarung also stillschweigend auf den Küstenabschnitt zwischen Dunkerque und Belgien ausgeweitet.

Die Verlagerung des Migrationsgeschehens ist sowohl ein Effekt der stärkeren Kontrollen im Küstenraum von Calais, als auch der weiteren Dynamisierung des Kanalroute. Gegenüber der Regionalzeitung La voix du Nord erklärte Cornet: „Wir können sagen, dass die Abfahrten der kleinen Boote inzwischen täglich stattfinden. Sie sind jetzt in der Gegend von Dunkerque sehr präsent, was früher nicht der Fall war.“ Und: „Die Überwachung wurde im Pas-de-Calais […] stark erhöht. Die Schmuggler passen sich an und die Aktivität verlagert sich. Vor allem gibt es einen immer massiveren Migrationsdruck, der sich auf die gesamte Küstenlinie bis hin zur Somme erstreckt“.

Wie der Gendarmerie-Oberst Christophe Husson ergänzte, eignet sich das Küstengebiet östlich von Dunkerque gut, weil es „viele Winkel, Löcher, Verstecke und zahlreiche Wege“ biete, „die es den Flüchtigen ermöglichen, nachts vollkommen unsichtbar zu werden.“ Auch die Nähe der belgischen Grenze spiele eine Rolle: „Die Schmuggler kaufen die Ausrüstung, Boote und Motoren in Belgien, den Niederlanden, sogar in Deutschland. Sobald sie Belgien passiert haben, können sie sofort ein Ablegen aus der Gegend von Dunkerque ins Auge fassen. Die Schmuggler haben ihre Techniken geändert. Zuvor wurde die Ausrüstung zum Standort gebracht und in den Dünen vergraben, während man auf die Ankunft der Exilierten wartete. Das Boot musste ausgegraben und ausgerüstet werden. Jetzt kommen sie mit voll ausgestatteten Booten an. Sobald sie die Grenze überqueren, ist es für sie sehr schnell möglich, ein Boot ins Wasser zu setzen.“

Im gleichen Artikel ließ La voix du Nord auch den Bürgermeister von Leffrinckoucke, Olivier Ryckebusch, zu Wort kommen. In seinem Statement wird deutlich, dass die Bootspassagen für die lokale Bevölkerung realtiv neu sind, aber kaum thematisiert werden, denn schließlich geschähen sie nachts. „Tagsüber treffen wir nicht auf Exilierte. Allerdings: Der Tag, an dem wir einen Exilierten ertrunken finden, mitten unter den Badegästen, mitten in der Sommersaison, ich denke, dies wird sich sehr stark das Bewußtsein einprägen.“ Danach problematisiert der Artikel ausgiebig die in den Dünen zurückbleibenden Abfälle und Utensilien (wie etwa Zelte, Kleidung, Schuhe und Schwimmwesten) der Bootspassagiere, diskutiert ihre mögliche Wirkung auf touristische Dünenbesucher_innen und den zusätzlichen Entsorgungsauswand.

Verfolgt man die lokalen Meldungen der vergangenen Monate, so spiegelt sich auch darin die Zunahme der Bootspassagen aus dem Küstenabschnitt zwischen Dunkerque und Belgien. So wurde beispielsweise am frühen Morgen des 13. Mai ein Boot mit acht Exilierten gerettet, das vor Dunkerque in Seenot geraten war. In der Nacht vom 18. auf den 19. Mai wurden im Raum Dunkerque 106 schiffbrüchige Channel crossers geborgen, die in drei unterschiedlichen Booten mit je 36, 21 und 49 Passagieren unterwegs gewesen waren. Doch auch aus den Gewässern vor Calais wurden weiterhin Rettungen schiffbrüchiger Migrant_innen gemeldet, zuletzt am 28. Mai. In geringerem Maße gilt dies auch für das Seegebiet von Boulogne, wo beispielsweise in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 28 Personen gerettet wurden.

Wie sehr sich die Situation inzwischen zugespitzt hat, zeigt ein Fund bei Calais: Am Morgen des 26. Mai entdeckten Spaziergänger_innen in den Dünen von Blériot westlich der Stadt ein selbstgebautes Kanu oder Kajak von etwa zwei Metern Länge. Der Polizei zufolge bestand „dessen Struktur aus Ästen und die Hülle aus Zellophanpapier.“ Außerdem wurde ein Ruder entdeckt, das ebenfalls aus einfachen Stöcken und Zellophan gefertigt worden war. La voix du Nord wies darauf hin, dass es sich bei dem Material tatsächlich um nichts anderes als die in Kühlschränken verwendete Frischhaltefolie gehandelt habe. „Jeden Tag, oder fast jeden Tag, werden Schlauchboote, Motoren, Benzinkanister und Kleidungsstücke von Migranten in den Dünen von Calais und Umgebung gefunden, besonders in Sangatte und Blériot-Plage. Aber dies ist das erste Mal, dass ein solches Boot entdeckt wurde,“ so die Zeitung.

Das Zellophanboot ist in seiner Bauweise neu, aber es ist nicht das erste improvisierte Boot, Floß oder Schwimmgerät im Kontext der kontinentaleuropäisch-britischen Migration. Mehrere Menschen haben bei der Anwendung solche Mittel ihr Leben verloren oder sind in Lebernsgefahr geraten (siehe hier und hier). Dies gilt insbesondere, aber nicht ausschließlich, für Geflüchtete aus afrikanischen Ländern, die seit Jahren einen großen Teil der Bewohner_innen der Calaiser Camps ausmachen. Vor diesem Hintergrund symbolisiert das Zellophanboot die Entschlossenheit derjenigen, die nicht die finanziellen Mittel für den Kauf einer professioneller Schleusung besitzen, notfalls unter Einsatz ihre Lebens nach Großbrittanien zu reisen – und auf diese Weise zugleich der Situation in Calais zu entkommen. Die stärkere Überwachung der Küste wird ihre Situation weiter eskalieren und ihr Risiko noch erhöhen.