Ende Mai und Anfang Juni 2021 haben in nur fünf Tagen 700 Migrant_innen den Ärmelkanal durchquert. Berichten der BBC zufolge waren es 336 Menschen in 19 Booten am 28. Mai – die höchste Anzahl an einem Tag seit Jahresbeginn –, 144 in sieben Booten am 29. Mai, 17 in einem Boot am 30. Mai, 71 in drei Booten am 31. Mai und 132 in sechs Booten am 1. Juni. Günstige Witterungsbedingungen scheinen die Passagen in diesem Zeitraum erleichtert zu haben. In Kürze dürfte die Zahl derjenigen, die seit Jahresbeginn per Boot übergesetzt sind, 4.000 übersteigen.
Videoaufnahmen des BBC-Journalisten Simon Jones vom 1. Juni zeigen ein vollbesetztes Schlauchboot, aus dem die Passagiere Wasser herausschöpfen. Das Boot sei von einem Schiff der französischen Behörden bis zur Seegrenze begleitet worden (ein Verfahren, das üblich ist, um ein Kentern der Schlauchboote bei riskanten Bergungsmanövern zu vermeiden). Auf britischem Hoheitsgebiet habe es dann allerdings eine Stunde gedauert, bis die zuständige Border Force eingetroffen sei. Das Boot mit den Geflüchteten befand sich zu diesem Zeitpunkt schon in Reichweite der Kliffs von Dover.
Mit der Zunahme der Passagen kommen die für die Aufnahme und Versorgung der Ankommenden vorgesehehen Infrastrukturen an ihre Grenzen: „Es gibt nicht genug Personal, nicht genug Platz und nicht genug Ressourcen in Tug Haven,“ sagte Lucy Moreton von der Gewerkschaft der Grenz-, Einwanderungs- und Zollbeamten (ISU) dem Guardian; dabei bezog sie sich auf eine Einrichtung, in die Channel crossers nach ihrer Ankunft in Kent geschickt werden.
Neben geographischen Verlagerungen der Ablegestellen vom stärker überwachten Küstenabschnitt bei Calais auf das Gebiet zwischen Dunkerque und der belgischen Grenze (siehe hier) deuten sich nun auch Veränderungen in der Sozialstruktur der Bootspassagiere an:
Unter Berufung auf das britische Innenministerium berichtet der Guardian weiter, dass in den letzten Wochen verstärkt Vietnames_innen den Kanal per Boot überquerten. Dahinter werde eine veränderte Vorgehensweise der betreffenden Schmuggler vermutet, für die eine Bootspassage inzwischen einfacher zu bewerkstelligen sei als ein Transport im LKW. Ähnlich berichtete die Abgeordnete Natalie Elphicke aus Dover gegenüber BBC von einem größeren Anteil junger unbegleiteter Frauen unter den Bootspassagieren. Sie äußerte die Vermutung, dass insbesondere junge Vietnamesinnen und Eritreerinnen in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnisse bzw. in der Sexarbeit ausgebeutet würden.
Formen extremer Ausbeutung waren in der Vergangenheit wiederholt bei vietnamesischen Armeitsmigrant_innen dokumentiert worden. In diesem Kontext starben im Herbst 2019 in einem per Lastwagen transportierten Kühlcontainer 39 Vietnames_innen während der klandestinen Passage vom belgischen Zeebrugge nach Großbritannien (siehe hier).
Wenn sich der höhere Anteil vietnamesischer Migrant_innen in den kommenden Monaten bestätigen sollte, so wäre dies vor allem ein Indiz dafür, dass sich die Nutzung der Kanalroute weiter ausdifferenziert hat.