Sowohl in Grande-Synthe als auch in Calais kam es im Mai und Anfang Juni zu massiven Räumungen. In ihrem Umfang, aber auch hinsichtlich der eingesetzten Gewaltmittel, gingen sie über die routinemäßigen Polizeioperationen hinaus. In diesem Beitrag geben wir anhand von Videomaterial der Human Rights Observers (HRO) zunächst einen Überblick über die vier Räumungen in Grande-Synthe zwischen dem 19. Mai bis 3. Juni 2021. Die Entwicklung in Calais werden wir im folgenden Beitrag behandeln.
18. Mai 2021
Turnus und Umfang der Räumungen hatten sich in Grande-Synthe bereits im März deutlich verstärkt (siehe hier). Am 18. April nun räumte die Polizei in einer dreistündigen Operation ein großes Zeltcamp im Wald- und Parkgebiet Puythouck. Nach Beobachtungen des HRO-Teams beschlagnahmten sie dabei 110 Zelte und 113 Planen und zerstörten zehn selbstgebaute Unterstände.
„Etwa 300 Menschen, unter ihnen Familien und unbegleitete Minderjährige, sind nun obdachlos, während den an der Küste arbeitenden Verbänden die Zelte ausgehen“, schrieben sieben zivilgesellschaftliche Organisationen, unter ihnen Auberge des migrants, Utopia 56 und Salam, in einer gemeinsamen Erklärung. Der Grund für die Verknappung der Zelte ist, dass die Polizei in Calais und Grande-Synthe seit einigen Monaten sehr viel mehr Zelte, Schutzplanen und andere für das Übernachten unter freiem Himmel wichtige Hilfsmittel beschlagnahmt. Den Monatsberichten der HRO zufolge waren es in Grande-Synthe im allein Februar 461, im März 440 und im April 444 Zelte bzw. Planen, insgesamt also über 1.300 in drei Monaten. Im gesamten Vorjahr war die Wegnahme von 2.110 Zelten bzw. Planen dokumentiert worden.
Ein Video der HRO zeigt, wie Bedienstete der staatlich beauftragten Firma Ramery mit einem Messer Zelte zerstören, in denen sich noch Personen befinden. Diese Praxis ist in der Vergangenheit immer wieder dokumentiert worden (siehe etwa hier).
26. Mai 2021
Acht Tage später fand die nächste Räumung großen Ausmaßes statt. Abermals waren einige hundert Menschen betroffen. Aufnahmen der HRO zeigen die heranrückende Phalanx der CRS. Bei der Operation wurden, so die Beobachter_innen, Schlagstöcke, Flashballs (Gummigeschosse) und CS-Gas eingesetzt.
Damien Carême, früherer Bürgermeister von Grande-Synthe und heute Europa-Abgeordneter der Grünen, kommentierte das Videomaterial der HRO mit der Bemerkung: „Welche ein Horror! Welch eine Unmenschlichkeit.“
28. Mai 2021
Bereit nach 48 Stunden folgte eine weitere Räumung:
3. Juni 2021
Die bislang letzte Räumung fand sechs Tage später statt. Auch sie richtete sich gegen einige hundert Personen und war mit der Wegnahme von existenziellen Gütern verbunden. „Hunderte von Zelten und Planen wurden zerrissen und weggeworfen,“ merken die HRO zu einem Video an: „Ein Fleischermesser wurde von einem Ramery-Mitarbeiter […] eingesetzt.“ Bei dieser Szene seien auch Kinder anwesend gewesen.
Die Radikalisierung der Räumungen fällt in eine Phase, in der der Küstenabschnitt von Dunkerque (Grande-Synthe ist faktisch ein Vorort dieser Stadt) stärker in den Fokus der Behörden gerät. Der Grund hierfür ist, dass sich die Bootspassagen nach Großbritannien stärker in diese Region und in Richtung belgische Grenze verlagern (siehe hier). Darüber hinaus wurden die Lebensbedingungen der Exilierten im gesamten nordfranzösischen Küstengebiet verschärft, um eine möglichst abschreckende Umgebung zu erzeugen. Auch die massive Beschlagnahme der Zelte kann als Teil dieser Strategie verstanden werden, die sich zugleich gegen die zivilgesellschaftliche Solidarität auswirkt. Carême Begriff des Horrors dürfte die Situation treffend beschreiben.
Update: 9./11. Juni 2021
Auch im Juni setzte sich die Serie der Räumungen fort. Am 9. un 11 Juni wurden weitere 250 bzw. Zelte und Planen zerstört.