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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

„Erzwungenes Elend“: Ein Bericht von Human Rights Watch

Die menschenrechtspolitische Auseinandersetzung mit der Situation der Exilierten in Nordfrankreich ist ebenso alt der gescheiterte Versuch, die undokumentierte Grenzpassage von Migrant_innen dort zu unterbinden. Neben anderen internationalen, nationalen und lokalen Organisationen beschäftigt sich Human Rights Watch (HRW) seit Längerem mit dieser Thematik. Nach dem 2017 vorgelegten Bericht „Like Living in like in Hell“ hat die Organisation am im Oktober 2021 einen weiteren Bericht vorgelegt: Enforced Misery. The Degrading Treatment of Migrant Children and Adults in Northern France.

Der von Michael Garcia Bochenek verfasste Bericht beruht auf Interviews, die HRW-Teams im Herbst 2020 und Sommer 2021 mit insgesamt 60 Exilierten in Calais und Grande-Synthe führten, sowie auf Gesprächen mit lokal tätigen zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Auswertung von Bildmaterial; u.a. begleitete HRW die Teams der Human Rights Observers bei der Beobchtung der routinemäßigen Räumungen und Utopia 56 bei nächtlichen Rundfahrten. Auf Seiten der Behörden sprach HRO mit der Kommunalverwaltung von Grande-Synthe und regionalen Akteuren der Jugendhilfe. Keine Gesprächsbereitschaft bestand trotz expliziter Anfragen bei den Präfekturen der Departements Pas-de-Calais und Nord.

Was der Bericht dokumentiert, wird von der Sache her jeder und jedem vertraut sein, die oder der sich mit der Thematik beschäftigt. Hinzu kommt jedoch eine Bewertung vor dem Hintergrund internationaler menschenrechtlicher und humanitärer Standards. So folgert der Autor mit Blick auf die rotinemäßigen Räumungen im 48-Turnus, bei denen die Camps nicht wirklich aufgelöst werden, sondern die Bewohner_innen gezwungen sind, vorübergehend ihre Zelte abzubauen und ihre Sachen in Sicherheit zu bringen: „Eine vorübergehende Räumung, auch aus einer informellen Siedlung, ist nach internationalen Standards eine Räumung, unabhängig davon, wie lange die Menschen von ihrem Aufenthaltsort entfernt oder vertrieben werden.“ Und mit Blick auf die größeren, als humanitäre Unterbringungsmaßnahmen deklarierten Polizeioperationen, nach denen die Betroffenen nach kurzzeitiger und oft unfreiwilliger Unterbringung in eine noch prekärere Situation zurückkehren, schreibt HRW: „Eine Räumung, die keinen wirksamen Schutz vor Obdachlosigkeit bietet, ist eine ‚Zwangsräumung‘, eine grobe Verletzung der Menschenrechte. Darüber hinaus dürfen Menschen bei Zwangsräumungen nicht entwürdigend behandelt werden, und es sollte generell der Grundsatz der Menschenwürde geachtet werden.“ (S. 32f) Exemplarisch für den Zwangscharakter der Räumungen stellt HRO dem Kapitel über Räumungen die Aussage einer kurdischen Frau aus einem Camp in Grande-Synthe voran: „Wenn die Polizei ankommt, haben wir fünf Minuten, um aus dem Zelt raus zu sein, bevor sie alles zerstören. Es ist nicht möglich für fünf Leute einschließlich kleiner Kinder, sich in fünf Minuten in einem Zelt anzuziehen.“

Der Wert des HRW-Berichts liegt also einerseits in der Feststellung, dass durch die in Calais und Grande-Synthe stattfindenden Räumungen durchgängig Menschenrechte verletzt werden, wobei „der primäre – und vielleicht der einzige – Zweck “ wohl darin bestehe, die Exilierten „zu schikanieren“ (S. 28). Zum Anderen betont HRW das Systematische dieser Politik: „Die negativen Folgen der Polizeipraktiken in Calais und Grande-Synthe sind […] nicht zufällig oder beiläufig. Sie sind intendiert, ein Beispiel für das, was einige Forscher als ‚Politik der Erschöpfung‘ bezeichnet haben.“ (S. 44) Die Autor_innen folgen darin explizit der Einschätzung des Koordinators von Utopia 56, dass der Charakter dieser Politik in ihrer Abschrechnung, Entwürdigung und Entmenschlichung der Exilierten bestehe (vgl. ebd.).

Letztlich beschreibt HRW damit die Kontinuität, aber auch die Radikalisierung, einer 2016 begonnenen Politik, die die Organisation bereits in ihrem 2017er-Bericht angeprangert hatte und in deren Zentrum die Verhinderung von points of fixation steht. Diese von zahlreichen Beobachter_innen beschriebene Politik zielte und zielt darauf, jede Verfestigung eines provisorischen Lebensorts zu verhindern, also zu unterbinden, dass ein rechtlicher Schutz entsteht und eine physische Entwicklung hin zu einer Hüttensiedlung mit informellen, aber durchaus nachhaltigen, Infrastrukturen einsetzt.

Vor diesem Hintergrund wendet sich der Bericht den materiellen und sozialen Infrastrukten zu, oder genauer: ihrer Unzulänglichkeit zu. So wird etwa die Gleichzeitigkeit einer staatlich bereitgestellten und einer staatlich behinderten Grundversorgung der Camps mit Nahrung und Wasser als integraler Bestandteil der Anti-Fixierungs-Politik erkannt: „Durch den Staat bereitgestellte Nahrungs- und Wasserverteilungen finden in Calais nicht an allen Lebensorten [der Exilierten] statt, und der Wechsel zu mobilen Verteilungen im Oktober 2020 bedeutete, dass Zeitpunkt und Ort dieser Verteilungen unangekündigt wechseln können. Verteilungen können außerdem zur selben Zeit stattfinden, wenn die Polizei morgens oder nachmittags Räumungen durchführt, was die Leute vor die Wahl stellt, diesen Grundbebedarf zu decken oder ihre Zelte, Planen und anderen Besitz zu behalten.“ (S. 45) Einer der weniger sichtbaren Effekte ist die Überlastung der zivilgesellschaftlichen Strukturen. „Wir sind so darauf fokussiert, den Leuten dabei zu helfen zu überleben, dass wir keine Zeit mehr haben, mit ihnen tiefergehend zu spechen“, zitiert HRW eine Projektleiterin von Secours Catholique (S. 46). Unter anderem sei es so kaum mehr möglich, Menschenschmuggel und andere vor allem für Minderjährige bedrohliche Situationen zu erkennen.

Zu vergleichbaren Befunden kommt der Bericht in Bezug auf den mangelnden Zugang zu anderen Ressourcen wie etwa Hygiene, adäquaten Unterkünften und einem funktionierenden Schutz für unbegleitet reisende Kinder und Jugendliche. Verschärft wird die Situation der Minderjährigen aus Sicht von HRW außerdem durch die Tatsache, dass eine legale Einreise auch zu Familienabgehörigen in Großbritannien praktisch nicht mehr möglich ist. Die Politik des erzeugten Elends und der Stress, unter den die zivilgesellschaftlichen Akteure gesetzt sind, bringt die betroffenen Kinder und Jugendlichen also einerseits eine bedrohliche Lage und konterkatiert anderseits das Bemühen, ihnen Hilfsangebote zu vermitteln oder sie auch nur zu identifizieren und anzusprechen.

Alles in allem stellt der Bericht fest: „Die […] beschriebenen Praktiken verletzen das Recht auf Freiheit von grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, den Schutz vor Zwangsräumungen, das Recht auf adäquate Nahrung und Wasser und das Recht der Kinder auf Fürsorge und Schutz. In allgemeinerer Hinsicht sind sie mit dem Prinzip der Menschenwürde unvereinbar, ‚dem Grundwert und sogar Kern der positiven europäischen Menschenrechte‘, um mit den Worten des Europäischen Ausschusse für Soziale Rechte zu sprechen.“ (S. 72)

Entsprechend weitgehend sind die Forderungen, die HRW an die Präfekturen der beiden Departements, aber auch an lokale, regionale, nationale und europäische Akteure richtet. In erster Linie fordert die Organisation ein Ende der Anti-Fixierungs-Politik, was auch bedeutet: ein Ende der Räumungen zumindest solange die Pandemie andauert und solange keine alternativen Unterkünfte existieren, die menschenrechtlichen Standards genügen. Zu beenden sei explizit die Beschlagnahmung von Zelten, Planen, Schlafsäcken und Decken in den Camps. „Unter keinen Umständen sollten die Polizei oder die von ihr beauftragten Reinigungstrupps diese Gegenstände zerschneiden oder sonstwie zerstören.“ (S. 10) Weitere Forderungen betreffen die stärkere Regulierung und Kontrolle des Polizeiverhaltens. Insbesondere müsse die Beobachtung von Räumungen, sei es durch Journalist_innen oder zivilgesellschaftliche Akteure wie die Human Rights Observers, stattfinden können. Nicht zuletzt macht der Bericht konkrete Vorschläge, wie die Kommunen und die Präfekturen eine funktionierende Infrastruktur für Unterkünften, Jugendhilfe usw. auf den Weg bringen könnten.

An die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und anderer EU-Staaten adressiert, fortdert HRW die Schaffung legaler und sicherer Möglichkeiten für die Einreise nach Großbritannien, die Schaffung neuer alternativer Bleibeperspektiven in Frankreich und eine Reform des europäischen Dublin-Reglements. Der aktuelle Entwurf eines restriktiven britischen Migrations- und Asylrechts (Nationality and Borders Bill) müsse in zwei zentralen Punkten verändert werden: Der Zugang zum britischen Asylverfahren dürfe nicht, wie vorgehen, an die Ankunftsart (insbesonder die Durchreise durch ein EU-Land) gekoppelt und die irreguläre Einreise in das Vereinigte Königreich keinesfalls kriminalisiert werden.

Die Präfekten der Departements Pas-de-Calais und Nord wiesen die Aussagen des Berichts umgehend zurück und der französische Innenminister Gérald Darmanin stellte sich wenige Tage nach dessen Veröffentlichung demonstrativ hinter seine Polizeikräfte (siehe hier). Die Räumungen gingen unterdessen weiter: Am heutigen 13. Oktober veröffentlichte Utopia 56 das folgende Video einer aktuellen Räumung in Grande-Synthe mit anschließender Pflügung des Siedlungsplatzes.

Räumung in Grande-Synthe am 13. Oktober 2021. (Quelle: Utopia 56 / Twitter)