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Calais

Der Hungerstreik und der Sturm

Zwei der Hungerstreikenden in der Kirche Saint-Pierre am siebten Tag ihrer Aktion. (Foto: Julia Druelle)

Der am 11. Oktober begonnene unbefristete Hungerstreik in der Kirche Saint-Pierre in Calais dauert nun seit elf Tagen an. Nach wie vor wurde keine der Forderungen erfüllt, an die Anaïs Vogel, Ludovic Holbein und Philippe Demeestère die Beendigung ihres Protests binden: erstens Ende der routinemäßigen Räumungen zumindest während des Winters, zweitens ein Ende der massenhaften Beschlagnahmungen und drittens ein Dialog der Behörden mit den unabhänbgigen Organisationen der Geflüchtetenhilfe (siehe hier). Trotz erster Zugeständnisse der Behörden bleiben die Forderungen unerfüllt und insbesondere die Räumungspolitik gegenüber den Camps dauert an. Exemplarisch zeigt dies der 21. Oktober, als ein schwerer Sturm in Nordfrankreich schwere Schäden anrichtete.

Ludovic Holbein, Anaïs Vogel und Philippe Demeestère. (Foto: Julia Druelle)

Der Hungerstreik ist eine radikale Aktion, auch vor dem Hintergrund, dass sich der Jesuitenpater und Seelsorger Philippe Demeestère im Alter von über 70 Jahren für dieser Protestform entschieden hat. Gleichwohl sind die Forderungen, wie die drei Aktivist_innen betonen, „bescheiden“, was meint: sie bewegen sich im Bereich des ‚realpolitisch‘ Erfüllbaren. Sie bilden dabei jedoch den irreduziblen Kern dessen ab, was französische wie internationale Menschenrechtsgruppen seit Langem fordern. Was der Hungerstreik also offenlegt und was ihn so politisch macht, ist die Verweigerung des Selbstverständlichsten.

In Frankreich gilt während der kalten Jahreszeit eine Winterpause für Zwangsräumungen; auf ihre Einhaltung gegenüber den Exilierten in Calais und Grande-Synthe bestehen die Hungerstreikenden. In den vergangenen Wintern aber waren die Räumungen unvermindert weitergegangen. Lediglich bei stärkerem Frost stellten die Behörden Nachtunterkünfte bereit, nicht jedoch bei dem nasskalten Wetter, das für nordfranzösische Winter typisch und für die Exilierten besonders ungesund und zermürbend ist. Im Übergang vom Winter zum Frühjahr dieses Jahres stieg sogar die Zahl der beschlagnahmten Zelte auf ein bis dahin nicht gekanntes Maß an. Die Winterpause für Räumungen müsste eigentlich ab dem 1. November eingehalten werden. Sie hoffe, bis dahin nichts zu essen, erklärte die hungerstreikende Anaïs gegenüber dem Journalisten Louis Witter.

Die Hungerstreikenden. (Foto: Julia Druelle)

Inzwischen hat der Hungerstreik die Behörden zu ersten, wenngleich nur marginalen, Zugeständnissen bewegt. Wie InfoMigrants mitteilt, erklärte der Präfekt des Pas-de-Calais sich bereit, „die Häufigkeit der in der Unterpräfektur Calais organisierten Konsultationssitzungen“ mit den unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu erhöhen und sie monatlich stattfinden zu lassen. Diese Ankündigung betrifft die dritte Forderungen der Hungerstreiken, die nicht zuletzt auf ein Ende des seit über eine Jahr immer wieder verlängerten Verbots staatsunabhängiger Wasser- und Nahrungsverteilungen in Teilen von Calais zielt. Das Zugeständnis der Präfektur sei lächerlich, so die Streikenden: „Auf der Ebene der Unterpräfekturen werden keine Entscheidungen getroffen […] Es gibt keinen Raum für Diskussionen, wenn jemand vor Kälte stirbt, im Regen steht, keinen Zugang zu Nahrung oder etwas anderem hat. Es gibt keinen Raum, um zu sagen: ‚Wir treffen uns in einer Woche, um darüber zu sprechen‘“, so Philippe Demeestère gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Ein weiteres Zugeständnis betrifft die zweite Forderung der Streikenden, nämlich ein Ende der Beschlagnahmungen. Bislang ist es üblich, dass die Behörden das beschlagnahmte Gut teils unmittelbar entsorgen und teils in einem Schiffscontainer, La Ressourcerie genannt, zwischenlagern, sodass die Exilierten theoretisch die Chance haben, ihre Sachen zurückzuholen – was in der Praxis jedoch oft schwierig oder unmöglich ist, beispielsweise weil sie nass und unsortiert in den Container geschmissen wurden. Die staatlichen Behörden seien nun, so InfoMigrants, dazu bereit, „ein neues Protokoll für die Rückgabe von persönlichen Gegenständen zu erstellen, die Migranten während der Evakuierungsmaßnahmen verloren haben könnten.“ Das veränderte Verfahren würde „einen leichter zugänglichen Ort für die Hinterlegung dieser Gegenstände anzubieten, die sortiert und getrocknet werden, bevor sie an die Migranten zurückgegeben werden.“ Immerhin, aber auch dieses Zugeständnis erfüllt die Forderung nach einem Ende der Beschlagnahmungen nicht im Ansatz.

Während des Hungerstreiks. (Foto: Julia Druelle)

Kein auch nur kosmetisches Zugeständnis ist bislang zur ersten Forderung bekannt geworden, nämlich einem Aussetzen der Räumungen. Ein Schlaglicht auf die gegenwärtige Situation wirft hingegen der Sturm Aurore (in Deutschland Ignatz genannt), der am 21. Oktober in Nordfrankreich schwere Schäden und großflächige Stromausfälle bewirkte. In Grande-Synthe bat Utopia 56 laut InfoMigrants die Stadtverwaltung und die Präfektur am Vortag, nach dem für Frostnächte etablierten Muster Notunterkünfte bereitzustellen, doch habe die Organisation keine Antwort erhalten. Utopie 56 habe dann selbst versucht, die Geflüchteten zu warnen und eine große Zahl an Planen zu verteilen, was angesichts der Massivität des Unwetters jedoch hilflos gewesen sei. Während des gesamten Sturms habe man dramatische Notrufe der Geflüchteten erhalten, und als der Sturm abklang, waren die Schäden in den Camps enorm. Auch in Calais seien keine speziellen Vorbereiten für die Sturmnacht getroffen worden. Videoaufnahmen der Human Rights Observers dokumentieren vielmehr, wie am Vormittag vor dem erwarteten Sturm „mehrere Unterkünfte [Zelte], Decken und Kleidungsstücke, die zum Teil Familien gehörten, von der Polizei beschlagnahmt“ wurden.

Camp in Grande-Synthe nach dem Sturm Aurore. (Foto: Utopia 56)

„Am Vorabend einer Präsidentschaftswahl können wir sehen, dass der Staat den Cursor nach rechts setzt, um zu zeigen, dass er handelt“, erklärte Anaïs Vogel im Gespräch mit Louis Witter. Auch dieser Kontext macht ihre Aktion wichtig, auch und gerade mit Blick auf den Aufstieg des rassistischen Populisten Éric Zemmour. Zahlreiche Personen, Verbände und Organisationen haben sich inzwischen solidarisch mit den dreien erklärt. Eine begleitende Petition hat mit rund 20.000 Unterschriften fast ihre Zielmarke erreicht. Die dritte Woche des Hungerstreiks steht bevor.