Wie in den vergangenen Jahren, wird die in Frankreich geltende Winterpause für Zwangsräumugen erneut missachtet. Diese gilt landesweit vom 1. November bis zum 31. März und soll verhindern, dass Menschen während der kalten Jahreszeit ihre Wohnung verlieren. Vor einem Jahr hatten Aktivist_innen in der Calaiser Kirche Saint-Pierre mehr als fünf Wochen lang einen Hungerstreik durchgeführt, um u. a. die Einhaltung dieser Regelung durchzusetzen (siehe hier). Ihr Ziel hatten sie trotz landesweiter Aufmerksamkeit nicht erreicht, und insofern verwundert es nicht, dass die Behörden ihre Räumungsroutine zu Beginn des Winters 2022/23 stillschweigend fortführen.
Schlagwort: Hungerstreik
Seit vergangenem Samstag (15. Januar) besetzen Aktivist_innen aus Solidarität mit den Exilierten den Platz vor dem Rathaus in Calais und machen mit Schildern und Transparenten auf ihre Forderungen aufmerksam, die an den basalen, bereits während des Hungerstreiks erhobenen Forderungskatalog erinnern.
Eine Messe als solidarische Geste

Am Abend des heutigen 24. Dezember 2021 wird der Bischof von Arras, Olivier Leborgne, am eritreischen BMX-Camp in Calais die Weihnachtsmesse zelebrieren. Angestoßen wurde diese Geste vom Jesuitenpater Philippe Demeestère, einem der drei Aktitivist_innen, die im Oktober und November den Hungerstreik gegen die entwürdigende Behandlung der Exilierten durchgeführt hatten (siehe hier). Demeestère, der den Hungerstreik vorzeitig hatte abbrechen müssen, hatte damals weitere Aktionen angekündigt, die vor allem auf praktische Solidarität zielten. Eine davon ist die Messe im Camp. Seiner Erfahrung nach ist es die erste größere religiöse Feier an einem Lebensort der Exilierten nach der Zerstörung des großen Jungle einschließlich seiner äthiopisch-orthodoxen Kirche und seiner diversen Moscheen im Oktober 2016. Neben der politischen Symbolik, die in der Feier liegt, stellt sie für die Gläubigen unter den Exilierten auch eine immaterielle Ressorce dar, die von den säkular orientierten Hilfsorganisationen naturgemäß nicht bereitgestellt werden kann.

Nach 37 Tagen beendeten Anaïs Vogel und Ludovic am 17. November ihren Hungerstreik in der Calaiser Kirche Saint-Pierre. Gleichzeitig riefen sie dazu auf, den Kampf gegen die inhumane Behandlung der Exilierten fortzuführen, etwa durch eine Demonstration in Paris. Wir dokumentieren die Pressemitteilung der beiden Aktivist_innen in eigener Übersetzung:

In Grande-Synthe bei Dunkerque fand am gestrigen 16. November eine der größten Räumungen der vergangenen Jahre statt. Sie betraf ein Camp, in dem rund 1.000 bis 1.500 Menschen, meist irakische Kurd_innen, lebten. Eine zweite Räumung betraf am gleichen Tag ein Gelände in Marck bei Calais, auf das sich nach vorausgegangenen Räumungen hunderte Exilierte zurückgezogen hatten. Auf ihre jeweilige Weise wirken beide Räumungen wie politische Statements, denn sie fanden an exponierten Orten statt und geschahen im Kontext aufgeheizter Diskurse: Die Räumung der mehr als tausend Menschen in Grande-Synthe kann als ein Signal Frankreichs an Großbritannien verstanden werden, dass man noch entschlossener gegen potenzielle Bootsmigrant_innen durchgreife, während die Räumung bei Calais genau dort ansetzte, wo sich Aktivist_innen anderthalb Wochen zuvor einer solchen Aktion zweimal entgegengestellt hatten (siehe hier). Beide Räumugen widersprachen zudem diametral der Forderung der Hungerstreikenden, die seit dem 11. Oktober eine Aussetzung solcher Operationen während der Wintermonate gefordert hatten und ihre Aktion am heutigen 17. November abbrachen.

Am 34. Tag des Hungerstreiks demonstrierten am gestrigen 13. November Hunderte Menschen in Calais gegen den inhumanen Umgang mit Exilierten. Lokale Medien zählten etwa 450, teilnehmende Initiativen sprachen von etwa tausend Personen. Sie unterstützten die Forderungen der Hungerstreikenden, die gemeinsam mit ihren Unterstützer_innen und lokalen Organisationen zu der Kundgebung aufgerufen hatten und vom Portal der Kirche Saint-Pierre aus zu den Teilnehmer_innen sprachen. Darin prangerten die Beiden die „politischen und persönlichen Interessen“ an, die dazu geführt haben, dass die Räumungen während des Winters in Calais und Grande-Synthe weitergehen, und charakterisiserten den Vermittlungsversuch des Innenministeriums als einen „Monolg“. Ihren Hungerstreik werden sie fortsetzen. Wir dokumentieren die Demonstration mit einer Serie von Fotos, die Julia Druelle zur Verfügung gestellt hat.
Schweigen. Und eine Demonstration

Vor genau einem Monat, am 11. Oktober 2021, begann der Hungerstreik. 31 Tage später setzen zwei der drei Aktivist_innen ihren Protest in der Kirche Saint-Pierre immer noch fort. Gespräche zwischen ihnen, dem vom Innenministerium entsandten Mediator Didier Leschi und den lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen verliefen Ende Oktober ohne greifbares Ergebnis: Leschi stellte lediglich Verbesserungen en detail in Aussicht, die an den Forderungen der Hungerstreikenden vorbeigingen. Diese sind also nach wie vor also nicht erfüllt. Präsident Macron, an den sich die Hungerstreikenden nach dem Scheitern der Mediation wandten, schweigt. Für Samstag, den 13. November, rufen die Hungerstreikenden und ihre Unterstützer_innen nun zu einer Demonstration unter dem Motto Stoppt die unmenschliche und entwürdigenden Behandlung auf. Der oben dokumentierte Aufruf wiederholt ihre Forderungen nach einem Ende der Räumungen zumindest während des Winters, einem Ende der Beschlagnahmungen und einem Dialog zwischen den Behörden und den unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen über für Hilfeleistungen in Calais.
Blockierte Räumung

Erstmals ist am heutigen 4. November in Calais die routinemäßige Räumungen eines Camps von lokalen Aktivist_innen und Exilierten durch eine gewaltfreie Blockade verhindert worden. Die Aktion am 25. Tag des Hungerstreiks reiht in einen Zyklus von Protesten ein, der binnen weniger Wochen eine in den vergangenen Jahren nicht gekannte Dynamik entfaltet hat.
Am heutigen 4. November hat der Jesuitenpater Philippe Demeestére seine Teilnahme am Hungerstreik in der Calaiser Kirche Saint-Pierre beendet. Der 72jährige Geistliche war nach 25 Tagen, an denen er nicht mehr gegessen hatte, erschöpft und sehr geschwächt. Die beiden anderen Aktivist_innen, Ludovic Holbein und Anaïs Vogel, setzen den Hungerstreik fort und rufen für den 6. November gemeinsam mit anderen Initiativen zu einer Demonstration in Paris auf.

Der Übergang von der dritten zur vierten Woche des Hungerstreiks in Calais fiel mit den katholischen Festtagen Allerheiligen und Allerseelen zusammen. Die Feiertage sind traditionell dem Gedanken an den Tod gewidmet. Einer der drei Hungerstreiken, der Geistliche Philippe Demeestére, zelebrierte am Abend des 2. November in der Kirche Saint-Pierre, wo der Hungerstreik stattfindet, einen Gottesdienst zu Allerseelen. An sich bereits ein symbolträchtiger Akt, erklärte Demeestére dabei, er sei „bereit, in seiner Kirche zu sterben“ (zit. n. Louis Witter, siehe oben). Sein durch den sakralen Kontext umso ernsteres Statement stellte zugleich eine Antwort auf die neue Vermittlungsmission von Didier Leschi dar, die kurz zuvor ergebnislos verlaufen und, anders als in der Vorwoche (siehe hier), von emotionalen Protesten begleitet war. Zu Beginn der vierten Woche des Hungerstreiks ist die Situation von Stillstand und Dynamik zugleich gekennzeichnet.