Kategorien
Calais Solidarität

Beginn der vierten Woche des Hungerstreiks

Tweet des Calaiser Journalisten Louis Twitter mit einem Statement des hungerstreikenden Geistlichen Philippe Demeestére, 2. November 2021. (Quelle: Louis Witter / Twitter)

Der Übergang von der dritten zur vierten Woche des Hungerstreiks in Calais fiel mit den katholischen Festtagen Allerheiligen und Allerseelen zusammen. Die Feiertage sind traditionell dem Gedanken an den Tod gewidmet. Einer der drei Hungerstreiken, der Geistliche Philippe Demeestére, zelebrierte am Abend des 2. November in der Kirche Saint-Pierre, wo der Hungerstreik stattfindet, einen Gottesdienst zu Allerseelen. An sich bereits ein symbolträchtiger Akt, erklärte Demeestére dabei, er sei „bereit, in seiner Kirche zu sterben“ (zit. n. Louis Witter, siehe oben). Sein durch den sakralen Kontext umso ernsteres Statement stellte zugleich eine Antwort auf die neue Vermittlungsmission von Didier Leschi dar, die kurz zuvor ergebnislos verlaufen und, anders als in der Vorwoche (siehe hier), von emotionalen Protesten begleitet war. Zu Beginn der vierten Woche des Hungerstreiks ist die Situation von Stillstand und Dynamik zugleich gekennzeichnet.

Der Stillstand drückt sich in den Vorschlägen aus, die Leschi am 2. November zur Beendigung des Hungerstreiks unterbreitete. Wie die Lokalzeitung La Voix du Nord berichtet, war das Treffen mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen der Geflüchtetenhilfe für 14:30 Uhr angesetzt und endete ergebnislos: „Gegen 15 Uhr verließen die Vertreter der Hilfsorganisationen für die Migranten die Räumlichkeiten, enttäuscht darüber, dass Didier Leschi ihnen nur erklärte, was er bereits in den Medien angekündigt hatte. Migranten, die aus ihren provisorischen Camps in Calais evakuiert werden, sollen ‚systematisch‘ untergebracht werden, wenn sie dies wünschen, jedoch außerhalb der Stadt. Das reicht nicht aus und entspricht auch nicht den Forderungen der drei Hungerstreikenden, die vor allem ein Ende des Abbaus der Camps während des Winters fordern.“

Die von Leschi vertretene Position war im Wesentlichen bereits in der Vorwoche formuliert worden. Demnach sind die Behörden bereit, den Bestand an Unterkünften „in Pas-de-Calais und in Hauts-de-France, aber nicht in Calais“ um „mehrere hundert Plätze“ zu erhöhen. Bei Räumungen sollten die Betroffenen Gelegenheit haben, „ihre persönlichen Sachen zurückzubekommen, bevor sie in die Unterkünfte gehen“, dafür sollten ihnen „etwa 45 Minuten“ zur Verfügung stehen. Es werde „keine überraschenden Räumungen“ mehr geben und vor jeder Räumung solle ein Team der Einwanderungsbehörde OFII, deren Leiter Leschi ist, eine Sozialdiagnose durchführen, um besonders schutzbedürftige Personen zu identifizieren und in geeigneten Zentren unterzubringen. Die Vorschläge könnten zum Ende der ersten Novemberwoche in Kraft treten, so eine Zusammenfassung der Verhandlungsposition durch InfoMigrants (Zitate ebd.). Außerdem brachte Leschi die Einrichtung einer Notunterkunft in einer Halle im Calaier Gewerbegebiet Zone des dunes ins Spiel, von der aus dann die Unterbringung in weiter entfernten Aufnahmezentren erfolgen könne. Allerdings lehnte die konservative Bürgermeisterin den Vorschlag umgehend ab.

Diese Zugeständnisse gehen an den Forderungen der Hungerstreikenden nach einer Aussetzung der Räumungen und einem Ende der massenhaften Beschlagnahmungen vorbei. Vielmehr schreibt sie lediglich die bestehenden Routinen fort. So wurden die Kapazität von Aufnahmezentren (CAES) bereits in der Vergangenheit situativ erweitert und etwa zu Beginn der Corona-Pandemie vorübergehend einige hundert zusätzliche Plätze geschaffen. Freiwillige Transfers in solche Zentren sind seit Jahren möglich, werden aber nur von relativ wenig Personen in Anspruch genommen, eben weil sie sich in räumlicher Distanz zu Calais befinden. Bei größeren Räumungen, die im Gegensatz zu den zermürbenden Polizeioperationen im 48- und neuerdings teils auch 24-Stunden-Turnus wesentlich seltener stattfinden (und in bestimmten Fällen durch Aushang angekündigt werden müssen), ist der Transfer in eine Unterkunft Teil der juristischen Legitimation, dabei erfolgt er häufig unter Zwang. Die alltäglichen Räumungen hingegen erfolgen erst seit April 2021 bewusst überraschend. Zuvor räumten die Polizeibehörden die Camps in Calais fast immer nach einem festen Schema, sodass die Betroffenen sich darauf einstellen und ihre Sachen in Sicherheit bringen konnten. Eine Rücknahme überraschender Räumungen würde faktisch also lediglich eine langjährige Routine wiederherstellen.

Die Verbesserungen, die Leschi vorschlug, wären also marginal. „Die Vorschläge haben nichts mit der Realität zu tun. Wir werden nicht über illegale und heuchlerische Vorschläge verhandeln. Die Zwangsräumungen in flagranti [dies meint das momentane Rechtskonstrukt der Räumungen im 48-Stunden-Turnus, siehe hier] werden fortgesetzt, ohne dass eine Unterbringung erfolgt“, werden die Verbände nach dem Abbruch des Treffens mit Leschi zitiert. Dabei beziehen sie sich auf die Tatsache, dass am 1. November, ab dem in Frankreich während der kalten Jahreszeit keine Zwangsräumungen durchgeführt werden dürfen, weitere Räumungen dokumentiert wurden (siehe hier).

An diesem Punkt des Hungerstreiks wird eine sehr viel tiefere Divergenz erkennbar. Offenbar stellen sowohl Unterkünfte vor Ort, als auch die Aussetzung der Räumungen während des Winterfriedens aus Sicht der Regierung rote Linien dar. Nach wie vor scheint der 2016 geräumte Jungle of Calais mit seinen zeitweise 10.000 Bewohner_innen das Denken der Regierung zu dominieren und gleichzeitig ihre Handlungsmöglichkeiten einzuengen: Eine Aussetzung der Räumungen könnte, so das zu Grunde liegende Narrativ, einen neuen Jungle dieser Größenordnung und Dynamik entstehen lassen, was es unter allen Umständen zu verhindern gelte. InfoMigrants zitiert Leschi mit den Aussagen: „Diese Angst hängt mit dem Ausmaß der Flüchtlingsströme zusammen: Seit Anfang des Jahres sind fast 40 000 Menschen an der [französischen] Nordküste angekommen“, und: „Der Staat kann nicht wissentlich zulassen, dass eine geheime Ausreisebasis nach England eingerichtet wird, wenn Menschen ihr Leben riskieren, indem sie den Ärmelkanal überqueren.“ Sollte die Regierung in diesem Denken verharren, scheint es schwer vorstellbar, wie sie den Forderungen der Hungerstreikenden in substanzieller Weise entgegenkommen könnte.

Diese Diskrepanz spiegelt sich nicht nur in der Reaktion der Verbände und in Demeestéres symbolgeladenem Statement am Allerseelentag. Während der Verhandlung mit Leschi demonstrierten rund 50 Menschen aus Solidarität mit den Exilierten. Als Leschi das Gebäude verließ, versuchten sie ihn zur Rede zu stellen und blockierten dann einige Minuten lang das Auto, in das er eingestiegen war. Danach traf Leschi mit Demeestère zusammen und traf erneut auf Protestierende, als er die Kirche verließ. Eine anschließende Pressekonferenz wurde in der Unterpräfektur Calais abgehalten, wo Leschi den Protestierenden absprach, überhaupt für Geflüchtete einzutreten. Die Hungerstreikenden selbst wandten sich in einer gemeinsamen Erklärung, in der sie ihre Forderungen nochmals begründeten, direkt an Präsident Macron.

Zahlreiche lokale Organisationen und Aktivist_innen begleiteten und kommentierten die Ereignisse in den Sozialen Medien, und manche taten dies in einer Aufgewühltheit und Emotionalität, die für Calais im Allgemeinen, aber auch für den bisherigen Verlauf des Hungerstreiks, ungewöhnlich ist. Der 23. Tag des Hungerstreiks endete ergebnislos, aber nicht im Stillstand.