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Channel crossings & UK

„Operation Isotrope“: Marine gegen Schlauchboote

Die drei Batch 1-Hochseepatrouillenschiffe der Royal Navy. (Foto: Al Macleod / Wikipedia)

Das britisch-französische Grenzregime wird auf beiden Seiten des Ärmelkanals bislang vorrangig als Aufgabe der Polizei wahrgenommen, allerdings mit fließenden Grenzen zum Militärischen. Momentan jedoch verändert sich dies in Großbritannien grundlegend: Denn anstelle der UK Border Force, die dem Innenministerium untersteht und damit zivilen Charakter hat, soll in Kürze die Marine die Federführung bei der Bekämpfung der Migration über den Ärmelkanal übernehmen. Dies wäre das erste Mal, dass militärische Ressourcen nicht zur Unterstützung der zivilen Behörden eingesetzt werden, sondern diese umgekehrt innerhalb einer militärischen Kommandostruktur fungieren. Zwar ist noch unklar, wie dies en detail aussehen soll, doch wurde der Operation bereits ein Name gegeben: Operation Isotrope.

Was die Operation Isotrope ist, lässt sich momentan nur bruchstückhaft erkennen. Beginnen wir mit dem Namen. Isotropie ist ein physikalischer Fachbegriff, der im vorliegenden Fall von naturwissenschaftlichen Laien als Bezeichnung für ein militärisches Projekt zweckentfremdet wurde. Seine Bedeutung in der Physik ist sehr abstrakt und bezeichnet die Unabhängigkeit einer Eigenschaft von der Richtung: So ist beispielsweise die Strahlung der Sonne, die gleichmäßig in den Raum abgegeben wird, isotrop, während die Strahlung eines Lasers es nicht ist. Vielleicht spielte bei der Namensgebung die Idee eine Rolle, dass ein militärischer Kommandeur die Migrationspolitik im Ärmelkanal wie eine Sonne bestrahlen und auf diese Weise eine umfassende und wirksame Strategie zur Schließung der Kanalroute erzeugen könne. So abstrakt, so illusorisch.

Mitte Januar berichteten britische Medien über die Vorbereitung eines Marineeinsatzes im Ärmelkanal und die Beauftragung von Konteradmiral Mike Utley, dem Befehlshaber der britischen Seestreitkräfte, mit der Ausarbeitung einer entsprechenden Strategie. Der parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium James Heappey erläuterte das Vorhaben am 18. Januar 2022 den Abgeordneten des Unterhauses. Am 26. Januar beschäftigte sich dann der Verteidigungsausschuss des Parlaments mit dem Vorhaben.

In der Debatte am 18. Januar machte Heappey deutlich, dass die zivilen und militärischen Behörden bereits jetzt verstärkt zusammenarbeiten. In den vergangenen 12 Monaten habe das Militär eine Reihe von Unterstützungsleistungen erbracht, darunter Überwachungsflugzeuge, Planungsexpertise und Unterkünfte. Es habe außerdem bei der „Erprobung neuartiger Taktiken geholfen, um die Border Force und das Innenministerium dabei zu unterstützen, Migrantenschiffe besser abzufangen und abzuschrecken.“

Die Regierung habe nun „das Verteidigungsministerium beauftragt, die operative Federführung für Operationen zur Bekämpfung der kanalübergreifenden Migration (cross-channel counter-migration operations) zu übernehmen. Das bedeutet eine viel größere und sichtbarere Rolle für die Royal Navy bei der operativen Planung, der Koordinierung der Mittel und der operativen Durchführung.“ Heappey zufolge verfüge die Regierung über eine große Bandbreite maritimer Mittel. „Wenn das gesamte Spektrum dieser maritimen Mittel für dieses Problem eingesetzt und unter einer militärischen Kommandostruktur zusammengeführt würde, würde dies eine wesentliche Verbesserung der Fähigkeiten gewährleisten.“

Offenbar zielt die Operation Isotrope also nicht darauf ab, eine schwimmende Barriere aus Kriegsschiffen im Ärmelkanal auffahren zu lassen oder mit militärischer Gewalt gegen Schlauchboote vorzugehen. Vielmehr bezweckt die ‚isotrope‘ Bündelung militärischer und ziviler Kapazitäten laut Heappey in erster Linie die vollständige Registierung der Grenzübertritte auf See. „Ziel der Regierung ist es, dass niemand auf eigene Faust illegal in das Vereinigte Königreich einreist. Daher müssen alle Schiffe, die illegale Migranten über den Ärmelkanal transportieren, abgefangen werden, bevor oder während sie anlanden.“ An anderer Stelle der Debatte präzisierte er, „dass niemand den Boden des Vereinigten Königreichs betreten darf, ohne von der Royal Navy oder anderen Behörden abgefangen und an Land gebracht worden zu sein. Sie werden dann in ein System gesteckt, das nach meiner Überzeugung abschreckend wirken wird, sodass die kanalübergreifende Route danach zusammenbricht.“

Mit dem abschreckenden System dürfte das künftige britische Staatsangehörigkeits- und Grenzgesetz (Nationality and Borders Bill) gemeint sein, dass für Channel migrants ein Asylverfahren zweiter Klasse, die Kappung von Rechtswegen und Bleibeperspektiven, Abschiebungen, strafrechtliche Verschärfungen und die Möglicheit von Offshore-Asylverfahren vorsieht. Im Rahmen der Operation Isotrope dürfte die Erfassung aller anlandenden Migrant_innen also eng mit dem künftigen Asylsystem verzahnt werden: „Die Royal Navy oder das Militär im weiteren Sinne können an der Beförderung von Personen beteiligt sein, wenn diese an der Küste ankommen und in das Sytem der Verfahrensbearbeitung eintreten. Es kann eine Verwendung für militärische Unterkünfte geben.“

Patroillenboot vom Tap P2000 der Royal Navy. (Foto: JJ Massey / Wikipedia)

Auch wenn sich ein Teil der Operation Isotrope also an Land abspielen dürfte, sind dennoch auch Marineschiffe im Ärmelkanal vorgesehen. Laut Heappey werden zunächst „einige“ sogenannte Batch-1-Hochseepatroillenschiffe (siehe Titelfoto) sowie kleinere Patrouillenschiffe vom Typ P2000 (Foto oben) eingesetzt. Eine Aufstockung ist möglich.

In der Parlamentsdebatte verneinte Heappey, dass die Militärschiffe auch Pushbacks durchführen würden, wie sie von der UK Border Force im Vorjahr trainiert wurden (siehe hier) und nach Angaben des Innenministeriums jederzeit praktiziert werden könnten (siehe hier). Die Kriegsschiffe der Navy seien, so der Staatssekretär, für die Durchführung von Pushbacks wegen ihrer Bauweise ungeeignet und würden vielmehr „aus einer Kommando- und Kontrollperspektive“ operieren. „Weder die Royal Navy noch die Royal Marines werden sich am Pushback beteiligen, aber diese Taktik wurde von der Border Force entwickelt, und wenn sie anwendbar ist, wird sie eingesetzt werden.“ Weiterhin erklärte Heappey, dass auf dem freien Markt geeignete Boote geleast werden können und offenbar auch bereits geleast worden sind.

Pushbacks im Rahmen der Operation Isotrope sind also durchaus zu befürchten, und das gleiche gilt für den Einsatz von Schallwaffen (sonic weapons), wie sie laut dem Abgeordneten Luke Pollard bereits auf Schiffen der Border Force installiert wurden. Auch ihren Einsatz schloß Heappey lediglich für das Militär aus: „Die Royal Navy hat klargestellt, dass sie nicht von der Royal Navy eingesetzt werden. Da die Operation unter dem Kommando der Royal Navy steht, liegt es im Ermessen des Befehlshabers der Royal Navy, ob er den Einsatz durch andere Behörden wünscht.“

Neben diesen Dingen markiert die Operation Isotrope eine Drift des Grenzregimes vom Zivilen ins Militärische, wobei zivile und militärische Akteure amalgarmieren, und reiht sich damit in die Militarisierung auch anderer Abschnitte der EU-Außengrenze ein. Damit verbunden ist eine Verschiebung der politischen Sicht auf Migration vom Gesellschaftlichen hin zu Kategorien der nationalen Sicherheit und hybriden Kriegsführung – in eine Sphäre der Hyper-Sekuritisierung also, in der militärische Ressourcen auf (und gegen) Zivilist_innen anwendbar werden. Migration als soziales Phänomen wird der zivilen Politik entzogen, im Modus eines verstetigten Ausnahmezustandes neu definiert und der Aufstandsbekämpfung überantwortet. In diesem konservativen Diskurs erscheint der/die Geflüchtete dann als eine Art menschliche Waffe.

Dies umreisst mit anderen Worten das, was Heappey den Abgeordneten des Unterhauses darlegte: „Was die Behauptung angeht, das Verteidigungsministerium sei nicht für den Schutz vor zivilen Bedrohungen ausgelegt, so haben wir gerade zwei Jahrzehnte der Aufstandsbekämpfung (counter-insurgency) hinter uns und müssen uns auf das Auftauchen von unterschwelligen Bedrohungen einstellen. Die Bedrohung trägt keine Uniform mehr und fährt nicht mehr in einem lackierten Militärfahrzeug mit Flagge herum; es wird immer wahrscheinlicher, dass die Bedrohung des Vereinigten Königreichs nicht von militärischen Quellen ausgeht. Natürlich hat das Verteidigungsministerium […] eine Rolle dabei zu spielen, dass unsere Grenzen besser geschützt werden.“ Und an anderer Stelle: „Wie ich bereits deutlich gemacht habe, sollten wir die Bedeutung der Sicherung unserer Grenzen nicht nur aus der Perspektive der Einwanderung, sondern auch aus der Perspektive der nationalen Sicherheit nicht unterschätzen. Die Migration wird anderswo in Europa als unterschwellige Waffe des Wettbewerb eingesetzt, und es kann nicht hingenommen werden, dass unsere Grenze nicht angemessen gesichert ist.“

Natürlich ist dies eine weitere Radikalisierung des Grenzregimes, aber es ist auch Ausdruck des Lavierens der Regierung Johnson angesichts der realen Entwicklung auf der Kanalroute (siehe hier) – und viel mehr noch angesichts der innenpolitischen Krise nach dem Bekanntwerden einiger Partys, die während eines Corona-Lockdowns im Garten des Regierungssitzes veranstaltet wurden. So machten sich einige Abgeordnete während der zitierten Debatte darüber lustig, dass die Operation Isotrope eigentlich Operation Red Meat heiße. Der Begriff bezeichnet die Taktik Johnsons, die mediale Aufmerksamkeit vom sogenannten Partygate-Skandal abzulenken.

Wirklich absurd aber wirkt die Idee, Kriegsschiffe gegen Schlauchboote aus Nordfrankreich einzusetzen, vor dem Hintergrund der außenpolitischen Lage: Ungefähr zeitgleich mit dem Bekanntwerden der Operation Isotrope kündigte die russische Regierung im Rahmen ihrer Kriegsdrohung an, über 140 Kriegsschiffe, 60 Kampfflugzeuge und 10.000 Matros_innen zu Manövern in die Nordsee, in den Atlantik und ins Mittelmeer zu entsenden – unter anderem in ein Seegebiet nordwestlich des Ärmelkanals.