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Calais

Räume der Solidarität: Aktivist_innen besetzen Häuser in Calais

Die Besetzer_innen veröffentlichten am 7. Februar dieses Foto des besetzten Wohnblocks in Calais. (Foto: Calais Logement pour Tous.tes)

Im zeitlichen und politischen Kontext der Commémoraction-Demonstration am 6. Februar besetzten Aktivist_innen zwei Häuser in Calais: ein leerstehendes Wohnhaus in der Rue Frédéric-Sauvage im Stadtteil Fontinettes und einen zehnstöckigen Wohnblock in der Rue d’Ajaccio im Stadtteil Fort-Nieulay. In diesem Gebiet im Westen der Stadt bestehen seit mehreren Jahren informelle Camps von Geflüchteten. Obschon die Besetzungen offenbar bereits einige Tage früher durchgeführt wurden, machten die Aktivist_innen sie erst am 7. Februar öffentlich. Gleichzeitig erklärten sie ihre Solidarität mit den Geflüchteten und anderen Menschen in prekären Verhältnissen, baten um überregionale Unterstützung – und sehen sich zur Stunde durch ein massives Polizeiaufgebot belagert.

Willkommens-Botschaft auf der Straße vor dem besetzten Hochhaus am Morgen des 8. Februar. (Foto: Calais Logement pour Tous.tes)

Das Stillschweigen in den ersten Tagen der Besetzung hatte rechtliche Gründe. Nach französischem Recht darf die Polizei eine Besetzung nur dann unmittelbar auflösen, wenn dies in flagranti geschieht. Dauert eine Besetzung jedoch bereits länger als 48 Stunden an, so ist ein gerichtlicher Räumungstitel erforderlich, der durch den Eigentümer erwirkt werden muss. Wer sich mit der Räumung migrantischer Camps in Calais beschäftigt, kennt diese Regelung, denn sie wird von den Polizeibehörden gebeugt, um dieselben Camps im Abstand von 48 Stunden permanent in flagranti zu räumen. Können Besetzer_innen also dokumentieren, dass diese Frist überschritten ist, besitzen sie einen gewissen, wenn auch prekären, rechtlichen Schutz, der wiederum die Chance eröffnet, ihre Aktion für eine gewisse Zeit zu verstetigen.

In einer in Französisch und Englisch verfassten Erklärung, die wir im Folgenden dokumentieren, berufen sich die Aktivst_innen auf das Recht aller Menschen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in Sicherheit und Würde wohnen zu können. Mit ihrer Aktion hoffen sie, den „Kreislauf der staatlichen und polizeilichen Gewalt und Dehumanisierung“ zu durchbrechen. Sie verwiesen darauf, dass „in Calais rund 1.500 Menschen unter inakzeptablen Bedingungen auf der Straße leben“ und ihr Zugang zu lebensnotwendigen Gütern wie Unterkunft, Sanitäranlagen, Wasser, Nahrung und medizinischer Hilfe limitiert werde. Die staatlichen Behörden betrieben eine Taktik der Prekarisierung und Unsichtbarmachung durch permanente Räumungen, ohne dass die Geflüchteten dagegen gerichtlich vorgehen könnten. Die Verantwortlichen in Frankreich und Großbritannien hätten eine politische in eine humanitäre Krise verwandelt und setzten nun zunehmend die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen unter Druck, die unmittelbare Hilfe leisteten, sodass der politische Kampf um menschenwürdige Unterkunft in den Hintergrund trete.

Mit ihrer Aktion, so die Besetzer_innen, sollen Räume ohne diese Repression eröffnet werden. Konkret fordern sie: 1. ein Ende der Räumung migrantischer Lebensorte in Calais, 2. das Ende der Schikanen gegen die Exilierten und diejenigen, die sie unterstützen, 3. die Legalisierung aller besetzten Orte in der Stadt sowie 4., als weitreichendste Forderung, die Requirierung aller ungenutzten Gebäude in Calais zur Unterbringung der auf der Straße lebenden Menschen. Entsprechend lautet der Name der Intervention: Calais Logement pour Tous.tes.

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Es zeichnet sich ab, dass die Besetzungen als eine Aktion ‚europaweit angereister Linksextremisten‘ gebrandmarkt werden wird, und tatsächlich ist eine radikale linke Handschrift unverkennbar, was das Ganze natürlich keineswegs diskreditiert. Die Situationsbeschreibung und die politischen Forderungen sind der Realität, wie auch wie sie wahrnehmen und dokumentieren, schlicht angemessen. Sie schreiben in veränderter Form das fort, was im vergangenen Herbst auch die Hungerstreikenden in der Kirche Saint-Pierre gefordert haben (siehe u.a. hier) und was auf zahlreichen öffentlichen Kundgebungen in Calais artikuliert wurde (siehe hier, hier, hier, hier und hier). Auf ihren Social-media-Accounts äußerten sich viele lokal tätige Akteur_innen solidarisch.

Zugleich knüpfen die Besetzer_innen an eine Protestbewegung an, die in den Jahren um 2014 in Calais eine enorme politische und soziale Wirkung entfaltet hatte. Nach jahrelangen stillen Besetzungen maroder Gebäude durch Exilierte hatten Aktivist_innen der No borders-Bewegung damals mehrere Häuser besetzt und teils in kollektive Lebensräume für/mit Geflüchtete/n, teils in einen sicheren Ort für Frauen und teils in soziale und kulturelle Zentren umgewandelt. Wurden Häuser geräumt, folgten weitere Besetzungen, an denen sich mehr und mehr auch die lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen beteiligten, auch wenn sie sich anderen politischen Spektren zurechneten. Die damalige Kampagne mündete in der spektakulären Besetzung der stillgelegten Fabrik Galloo am Rand der Calaiser Innenstadt nach einer gemeinsamen Demonstration im Juli 2014.

Die komplexen und nicht immer einfachen Erfahrungen, die dabei gemacht wurden, sind in Texten von Calais Migrant Solidarity, im Erinnerungsbericht der Aktivistin Amy Non, in der theoretischen Reflexion von Natasha King und im Standardwerk des Migrationsforschers Michael Agier dokumentiert. Die Lektüre dieser Texte vermittelt, wie sehr diese Besetzungen die auch damals schon fest etablierte Taktik der Unsichtbarmachung konterkarierten und die lokale Situation in den Fokus der politischen Öffentlichkeit rückten. Letztlich reagierten die Behörden damals mit einem taktischen Schachzug, indem sie die Bewohner_innen der besetzten Häuser wie auch der verschiedenen Camps und Jungles auf ein zu diesem Zweck gepachtetes Brachgelände am Rand der Stadt drängten, ihre Ansiedlung dort anderthalb Jahre lang offiziell tolerierten und in der Nähe eine rudimentäre humanitäre Infrstruktur bereitstellten. Diese Siedlung, in der bis 2016 teils über 10.000 Menschen lebten, wurde international zum Inbegriff des Jungle of Calais.

Von einer solchen Dynamik sind die aktuellen Besetzungen weit entfernt, wenngleich ihr symbolisches Potenzial vor diesem historischen Hintergrund von Anfang an hoch ist. Dies mag erklären, warum die Behörden am Abend des 8. Februar, als dieser Artikel entstand, ausgesprochen heftig reagierten, sodass offen ist, wie lange und unter welchen Umständen die Besetzung fortgeführt werden kann.

Polizeifahrzeuge vor dem besetzten Wohnblock in Calais am Abend des 8. Februar 2022. (Quelle: Calais Logement pour Tous.tes / Twitter)

Im Fokus der laufenden Auseinandersetzung steht die schon allein wegen der Größe des Gebäudes eindrucksvolle Besetzung im Fort-Nieulay-Viertel. Im Lauf des Tages riegelte die Polizei das Hochhaus ab und verwehrte Besucher_innen den Zugang, ohne selbst das Gebäude zu betreten. Gegen 17 Uhr ging sie mit Schlagstöcken und Tränengas gegen eine Gruppe Jugendlicher vor, die die Polizist_innen lokalen Medien zufolge beworfen haben sollen. Im Verlauf des Abends verhinderte die Polizei dann erneut, dass Wasser und Nahrung in das Gebäude gebracht wurden. Ein von den Besetzer_innen veröffentlichtes Video zeigt das Anrücken von 22 CRS-Fahrzeugen.

„Die Polizei belagert das von CalaisLogement besetzte Gebäude und geht mit mittelalterlichen Praktiken gegen diejenigen vor, die sich für Solidarität einsetzen, um die Versorgung mit Wasser und Mahlzeiten zu verhindern. Man muss sagen, dass sie in diesem Bereich eine ziemliche Übung hat“, kommentierte die erfahrene lokale Hilfsorganisation l’Auberge des migrants. Wie werden über den weiteren Verlauf berichten.

[Update, 11. Februar 2022]

Nach wie vor geht die Besetzung beider Häuser weiter. In einer neuen Erklärung beschreiben die neuen Bewohner_innen des Wohnturms die weigerung der Behörden, den rechtlichen Status der Besetzung formal festzustellen und den andauernden Belagerungszustand, aber auch die Solidarität innerhalb eines Viertels, dessen Bewohner_innen sich bereits seit Längerem gegen ihre Verdrängung wehren: