Die Häufung von Todesfällen im Zusammenhang mit dem britisch-kontinentaleuropäischen Grenzregime endet nicht. Am 25. März 2022 starb ein eritreischer Exilierter, als er auf einem Güterzugs im Bahnhof von Valenciennes einen Stromschlag auslöste; drei weitere Eritreer wurden dabei verletzt. Offenbar hatten sie versucht, sich auf dem Dach eines Zuges nach Calais bzw. Großbritannien zu verstecken. Der Stromschlag löste außerdem eine Reihe von Explosionen aus, die den Betrieb des Bahnhofs zeitweise unmöglich machten.
Über die Identität des getöteten Eritreers ist bislang nicht Genaues bekannt, und über die Gründe, warum die Vier auf den Güterzug geklettert sind, lässt sich lediglich spekulieren. Allerdings erscheint es sehr wahrscheinlich, dass sie sich auf einer irrgulären Reise von Belgien nach Großbritannien befanden. Die Stadt Valenciennes ist ein Verkehrsknutenmpunkt im Süden des Departements Nord nahe der belgischen Grenze. Bereits in der Vergangenheit wurde dokumentiert, dass die Region eine Zwischenstation auf dem Weg zur Kanalküste bildet; sie gehört gleichsam zur Peripherie des Calaiser Migrationsraums.
Nach dem tödlichen Unfall berichtete Alexandrine, eine Freiwillige der Brüsseler Initiative BXL Refugees, im Gespräch mit der Zeitung La voix du Nord, vom exemplarischen Fall eines eritreischen Geflüchteten, der in Brüssel auf sein Visum warte, um im Rahmen der Familienzusammenführung nach Großbritannien reisen zu dürfen. Die Wege und Beweggründe der eritreischen Geflüchteten, mit denen sie in Kontakt sei, ähnten einander. „In Belgien begegnet Alexandrine vielen von ihnen“, fasst die Zeitung das Gespräch zusammen: „Sie durchqueren ‚Äthiopien, den Sudan, Italien. Sie wollen nach Calais‘. Andere reisen durch ‚Deutschland oder die Schweiz. Sie kommen aus dem Osten, aber sie wollten nicht dort bleiben‘. Lastwagen, Boote – alles, solange sie nur den Ärmelkanal überqueren. Einige schaffen es, andere sind erschöpft und kommen manchmal nach Belgien zurück, um wieder auf die Beine zu kommen. Und dann gibt es noch diejenigen, die sich dafür entscheiden, ‚hier oder in Frankreich‘ zu bleiben. Das ist eine Minderheit, ‚weil es für sie nicht leicht ist, ihrer Familie zu sagen: Es ist zu hart, ich höre auf‘.“
Ein anderer Kontext als der von Alexandrine umrissene ist für die lebensgeährliche Entscheidung der vier möglicherweise sehr jungen Geflüchteten, sich auf dem Güterzug zu verstecken, kaum vorstellbar. Ein von einer Reisenden aufgenommenes und auf Social Media veröffentlichtes Videos zeigen sie unmittelbar vor dem Unfall, direkt unter den Starkstromleitungen. Auf einem zweiten, kurz nach dem Stromschlag aufgenommenen Video steigt bereits schwarzer Rauch auf, offenbar infolge einer ersten Esplosion. Noch immer sind Menschen auf dem Zug erkennbar, Schutz suchend weggeduckt.
Der Unfall ereignete sich Medienberichten zufolge gegen 16:30 Uhr. Noch am gleichen Abend bestätigte die Staatsanwaltschaft, dass die getöte Person die Oberleitung berührt habe und die drei anderen verletzt in ein Krankenhaus gebracht worden seien. Bestätigt wurde auch, dass sie eritreischer Nationalität und möglicherweise minderjährig seien.
Durch den Stromschlag sei es zu fünf Explosionen, zum Brand eines Güterwaggons, zu Ausfällen der Stromversorgung und infolge dessen zu Zugausfällen auf mehreren Bahnstrecken gekommen. Der Bahnhof wurde evakuiert und die Löscharbeiten dauerten bis zum frühen Abend an. An den folgenden Tagen wurde der Bahnhof schrittweise wieder in Betrieb genommen.
Die Calaiser Organisation Auberge des migrants wies nach diesem erneuten Todesfall darauf hin, dass ukrainischen Geflüchteten gestattet würde, kostenlos zu reisen, was natürlich zu begrüßen sei, andere aber diskriminiert würden. „Diese Diskriminierung hat erneut zu einem Todesfall geführt. Die Regierung ist für diesen Tod verantwortlich.“ Auch die u.a. in Calais und Dunkerque tätige Utopia 56 erklärte: „Am Freitag starb ein junger Mann aus Eritrea durch einen Stromschlag, als er versuchte, sich in einem Zug in Valenciennes zu verstecken. Wenn die kostenlose Nutzung von Verkehrsmitteln für alle Geflüchteten, egal woher sie kommen, gelten würde, wäre dieser junge Mann noch am Leben. Diskriminierung tötet.“
Der bislang namenlose Eritreer ist der 350. Mensch, dessen Tod im Kontext der auf das europäische Festland vorverlagerten britischen Grenzpolitik dokumentiert wurde. Seit September 2022 werden monatlich meist mehrere Todesfälle gemeldet: Neben der medial viel beachteten Havarie eines Bootes, bei der am 24. November 27 Menschen starben und zwei seither vermisst werden, ereigneten sich zahlreiche Todesfälle bei Versuchen, auf einen Lastwagen zu gelangen, sowie auf einer Bahnstrecke in der Nähe einiger Camps in Calais (siehe zuletzt hier und hier).