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Calais

Illegalität einer Räumung im September 2020

Räumung des Hospital Jungle in Calais am 29. September 2020. (Foto: Human Rights Observers)

Immer wieder versuchen zivilgesellschaftliche Organisationen, auf dem Rechtsweg gegen die entwürdigenden Umgang mit außereuropäischen Geflüchteten in Calais vorzugehen – nicht immer, aber teils durchaus erfolgreich. Eine dieser Klagen richtete sich gegen den Präfekten des Departements Pas-de-Calais, Louis Le Franc, und bezog sich auf eine der größten Polizeioperationen des Jahres 2020: die Räumung des Hospital Jungle am 29. September. Wie das Berufungsgericht im nordfranzösischen Douai nun entschied, war diese Räumung illegal und stellt einen Akt der Rechtsbeugung dar. Die Betroffenen können auf Schadenersatz hoffen.

Die Räumung des Hospital Jungle war von Anfang an juristisch umstritten gewesen (siehe hier, hier und hier). Dort, auf dem weitläufigen Gebüsch- und Brachgebiet Virval in der Nähe des Calaiser Krankenhauses, bestanden bereits seit Jahren Camps und auch heute leben dort trotz umfangreicher Rodungen noch einige Exilierte. Nach einer Serie aufwändiger Räumungen im Sommer 2020 (siehe hier) war ihre Zahl auf rund 800 Personen angewachsen, von denen im Zuge der Räumung am 29. September etwa 650 gegen ihren Willen in teils weit entfernte Aufnahmezentren gebracht wurden. Sowohl die Bereitstellung der Plätze in diesen Einrichtungen, als auch die Organisation der Busse für den Transport dorthin hatten längere logistische Vorbereitungen erfordert. Für den Präfekten, der erst einen Monat zuvor sein Amt angetreten hatte, war dies die erste große Maßnahme im Kontext der Calaiser Migration, wofür er von Innenminister Gérald Darmanin sogar in einem Tweet beglückwünscht wurde. Es lässt sich spekulieren, ob Le Franc sich auf diese Weise einen Namen als jemand machen wollte, der hart durchgreift, oder ob schlicht Dilettantismus im Spiel war. Jedenfalls wertete das Gericht in Douai die lange logistische Vorbereitung, die Art der Durchführung und den Glückwunsch des Ministers nun als Indizien für das Vorliegen eines Rechtsbruchs („voie de fait“).

Verhängnisvoller Glückwunsch: Treet des französischen Innenministers vom 29. September 2020. (Quelle: Gérald Darmanin / Twitter)

Große Räumungen waren zur Zeit des Amtsantritts von Le Franc nicht neu, allerdings stützten sie sich sonst auf einen gerichtlichen Räumungstitel, der einige Tage vor der Maßnahme durch Aushang am betroffenen Camp bekannt gegeben wurde, sodass die Migrant_innen das Gelände „freiwillig“ verlassen und ihren Besitz in Sicherheit bringen konnten. Le Franc aber ging anders vor: Er berief sich darauf, in flagranti zu handeln. Dieser Rechtsrahmen der flagrance wäre gegeben gewesen, wenn der Hospital Jungle tatsächlich erst im Entstehen begriffen gewesen wäre und die Präfektur innerhalb von 48 Stunden gehandelt hätte. Dies war jedoch offenkundig nicht der Fall und die Präfektur selbst teilte in einer Presseerklärung zur Räumung mit, dass die Situation bereits „mehrere Wochen“ andauernde. Auch dieses Selbstzeugnis wertete das Gericht nun als Beleg für die Rechtswidrigkeit der Maßnahme.

Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen wie L’Auberge des migrants, Utopia 56 und Human Rights Observers beweifelten bereits wenige Tage nach der Räumung deren Rechtmäßigkeit: „Rechtlich gesehen wurde die Räumung von den Strafverfolgungsbehörden mit Ermittlungen begründet, in deren Rahmen zwar Beweise sichergestellt werden dürfen, die aber keinesfalls eine Räumung gestatten. […] Der Präfekt handelte daher illegal und überraschend, was die Exilierten daran hinderte, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen und ‚sich selbst zu räumen‘, wie dies bei früheren Räumungen […] der Fall war […].
Das Fehlen einer öffentlich bekannt gemachten Rechtsgrundlage beraubt die Einwohner des Geländes ihres Rechts, sich an einen Richter zu wenden, um ihre Räumung anzufechten“ (vollständiger Text hier).

Unterstützt durch dieselben Organisationen (sowie zusätzlich Secours Catholique) und anwaltlich vertreten durch Eve Thieffry und Vincent Potié, verklagten im November 2020 elf von der Räumung betroffene Geflüchtete den Präfekten (siehe hier). In einer öffentlichen Erklärung schilderte einer von ihnen, wie er die Räumung erlebt hatte: „Am 29. September wurde ich in der Nähe des Camps durch die morgendliche Kälte wach. Ich konnte eine unglaubliche Anzahl von Polizisten um das Camp herum sowie viele Busse und Medienleute mit Kameras und Fernsehkameras sehen. Hunderte Geflüchtete wurden wie Tiere von der Polizei zu den Bussen geführt. Der Anblick war erschreckend, und obwohl meine Kumpel und ich dies aus der Ferne beobachteten, verließen wir vor lauter Angst unsere provisorische Schlafstätte und begaben uns auf einen schwer begehbaren Weg, um nicht gesehen zu werden. Wir verbrachten den ganzen Tag ohne Nahrung und im Regen und blieben nie länger an einem Ort aus Furcht, festgenommen zu werden.“ (vollständiger Text hier)

Die Klage scheiterte im Januar 2021 zunächst in erster Instanz, doch legten die Geflüchteten Berufung ein.

Das Berufungsgericht bestätigte in seinem landesweit beachteten Urteil nun, dass der Präfekt einen Rechtsbruch begangen hat. Wie u.a. La voix du nord und Le Monde aus dem Urteil zitieren, hatte er „nicht die Befugnis, eine Entscheidung über die Durchführung der Räumung zu treffen“. Insbesondere sei der Rechtsrahmen der flangrance nicht gegeben gewesen – der Präfekt hatte argumentiert, er habe auf Anordnung des Staatsanwalts gehandelt, nachdem am Vortag eine Untersuchung wegen der Entdeckung von 450 Zelten in dem Camp eingeleitet worden sei. Tatsächlich, so das Gericht, habe jedoch der Präfekt die Initiative ergriffen und sich über gerichtliche Befugnisse hinweggesetzt. „Darüber hinaus“, so Le Monde, „habe die Präfektur ihre Kompetenzen überschritten, indem sie die Migranten, die unter dem Druck der Polizei zu Bussen eskortiert wurden, vorübergehend ihrer Freiheit beraubt habe […]. Die Anwesenheit zahlreicher Beamter, die die Exilierten bei dieser Evakuierung – der größten dieser Art seit 2016 – umringten, war ‚geeignet, eine Nötigung darzustellen‘, stellte es [das Gericht] fest.“ Laut Anwältin Eve Thieffry bestätigte das Gericht damit, „was die Vereine seit Jahren sagen: dass der Präfekt keine persönliche Befugnis hat, Personen an der Küste zu evakuieren und unter Zwang umzusiedeln“.

Die Präfektur reagierte zunächst nicht auf das Urteil, hat aber noch die Möglichkeit, Einspruch einzulegen. Tut sie dies nicht, so wird der Prozess am 23. Mai mit einer Anhörung über den Schaden, den die Kläger erlitten haben, weitergehen. Gefordert wird eine Entschädigung in Höhe von 5.000 € pro Person.