Es ist nicht neu, dass freiwillige Helfer_innen und politische Aktivist_innen in Calais Schikanen erfahren. Gängig sind etwa Ordnungsgelder bei Verstößen gegen das Verbot, in bestimmten Gebieten der Stadt Lebensmittel und Hilfsgüter zu verteilen, Knöllchen wegen Falschparken und ausgiebiges Überprüfen von Fahrzeugpapieren. Hinzu kommen das rechtswidrige Abfotografieren von Personen und Papieren durch die Polizei, teils mit den privaten Smartphones, und andere Formen verbaler und physischer Machtdemonstration. Deutlich darüber hinaus geht die Inhaftierung des britischen Aktivisten Matthew R., der sich in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Initiativen für die Rechte der Exilierten in Calais einsetzt, zuletzt im Rahmen des Kollektivs Calais Logement Pour Toustes, das im Februar 2022 einen maroden Altbau besetzte und in einen solidarischen Lebensort für Exilierte umwandelte (siehe hier und hier). Matthew wird keine konkrete Straftat vorgeworfen, vielmehr wurde er wegen eines abgelaufenen Aufenthaltstitels inhaftiert, mit einem einjährigen Einreiseverbot nach Frankreich belegt und muss nun unter Hausarrest auf seine Abschiebung nach Großbritannien warten. Eine Erklärung, die er selbst hierzu abgab, dokumentieren wir am Ende dieses Beitrags.
Der 22-jährige Matthew hatte Medienberichten zufolge mehrere Jahre lang für Initiativen wie Refugee Community Kitchen, Calais Food Collective, Human Rights Observers, Utopia 56 und La Cabane Juridique gearbeitet, bevor er sich an der Besetzungskampagne im Februar beteiligte und in das besetzte Haus an der Rue Frédéric Sauvage zog.
Der rechtliche Status dieses Hauses konnte zunächst abgesichert werden, allerdings wird ein Gericht im Mai darüber entscheiden, ob eine Räumung stattfinden soll oder nicht. Bis auf weiteres bietet es 20 bis 30 Exilierten einen Lebensort frei von der Unsicherheit und Zermürbung in den Camps. Offenbar forderte die konservative Bürgermeisterin Anwohner_innen des Hauses auf, Beschwerden gegen die Besetzer_innen einzureichen, doch erfährt das Projekt zugleich Solidarität aus der Bevölkerung und ist in zivilgesellschaftliche Strukturen eingebunden. Einige sudanesische Bewohner_innen veröffentlichten im März eine Erklärung, in der sie den Wert des Hauses gegenüber dem Jungle würdigen.
Die Festnahme Matthews ist Teil der veränderten rechtlichen Situation nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU. Latent besteht nun für britische Staatsbürger_innen die Gefahr, bei kontinuierlicher Tätigkeit in Calais gegen Aufenthaltsbestimmungen zu verstoßen und des Landes verwiesen zu werden, so wie es Matthew geschehen ist.
Das französische Onlinemedium StreetPress rekonstuiert Matthews Festnahme wie folgt: „In diesem Fall ist nichts klar. Laut der Präfektur von Pas-de-Calais, die von StreetPress kontaktiert wurde, ‚wurde ein britischer Staatsbürger am Donnerstag, den 28. April, anlässlich einer Verkehrskontrolle angehalten. Bei dieser Kontrolle stellten die Polizeibehörden fest, dass er sich illegal im Land aufhielt. Daraufhin wurde eine Verpflichtung zum Verlassen des französischen Hoheitsgebiets (obligation à quitter le territoire français; OQTF) mit einer Unterbringung in einem Verwaltungshaftzentrum angeordnet‘. Als Folge des Brexit benötigen britische Staatsbürger seit dem 1. Januar 2022 einen Aufenthaltstitel, um sich in Frankreich aufhalten zu können. Matthew verfügte zunächst über ein Dokument, das fünf Jahre gültig war. Im März dieses Jahres wurde es ihm jedoch entzogen, weil er einer Vorladung der Präfektur nicht nachgekommen war. Da die Briefe nicht ankamen, schloss der Staat daraus, dass er nicht an der angegebenen Adresse wohnte und beschloss, ihm eine OQTF zu verpassen.“
Matthew war also der Aufenthaltstitel entzogen worden, ohne dass er darüber informiert war, und entsprechend wurde eine Verkehrskontrolle für ihn zur Falle. Er selbst bestreitet, postalisch nicht erreichbar gewesen zu sein, und die erfahrene lokale Rechtshilfe La Cabane Juridique weist darauf hin, dass die Behörden ihn selbst dann problemlos hätten kontaktieren können, um die Aufenthaltssache zu klären. Mehrere lokale Initiativen (z.B. Calais Food Collective), in denen er sich engagiert hatte, sprechen von einer politischen Motivation der Behörden mit dem Ziel der Einschüchterung. „Was auch immer die Beweggründe der Präfektur sein mögen, Matthew sitzt fest. Er erhielt sein OQTF mehr als einen Monat nach der Entscheidung. Die Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs ist somit abgelaufen“, schreibt StreetPress.
Nach seiner Festnahme am 28. April war Matthew zunächst im Verwaltungshaftzentrum (Centre de Rétention Administrative; CRA) in Lesquin bei Lille inhaftiert. Was er dort erlebte und in seiner unten dokumentierten Erklärung beschreibt, war eine entwürdigende Haftpraxis gegen ihn und vor allem gegen nichteuropäische Menschen ohne Papiere. Am 2. Mai verfügte das Berufungsgericht in Douai zwar seine Entlassung aus dem CRA, hob aber die Ausweisung und das Einreiseverbot nicht auf. Matthew wurde daraufhin von der Präfektur in einem Aufnahmezentrum (Centre d’Accueil et d’Examen des Situations; CAES) in Arques bei Saint-Omer unter Hausarrest gestellt, von wo aus er sich bis zu seiner Abschiebung nach Großbritannien mehrmals wöchentlich bei einer Polizeiwache melden muss, die eine Stunde Fußweg entfernt liegt.
Sowohl die CRA, als auch die CAES sind Einrichtungen, in die auch Exilierte regelmäßig gebracht werden: CRA dienen im Kontext der Calaiser Grenzpolitik beispielsweise der Inhaftierung von Menschen, die bei einer der routinemäßigen Räumungen aus der Menge der Campbewohner_innen herausgegriffen werden und keine gültigen Aufenthaltspapiere haben. CAES hingegen sind genau die Einrichtungen, die den Exilierten staatlicherseits als Ausweg aus dem Elend der Camps offeriert werden und in denen sie Zugang zum Asylverfahren erhalten können, unter Umständen jedoch auch von Abschiebung bedroht sind; bei größeren Räumungsmaßnahmen läßt die Prefektur auch Menschen gegen ihren Willen in CAES bringen.
Für den bis zu seiner Abschiebung unter Hausarrest gestellten britischen Aktivisten, schreibt SteetPress, sei die Verpflichtung, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden, „ein letzter Stinkefinger der Präfektur“. La Cabane Jurique allerdings befürchte, „dass Matthew nur der erste in einer langen Liste ist. Die Abschiebung von Freiwilligen könnte zu einer ‚wiederkehrenden Praxis in Calais werden, das schon immer ein Laboratorium für repressive Politik war‘.“
In der Tat spielte die Idee, eine rechtliche Handhabe für die Ausweisung nichtfranzösischer Freiwilliger und Aktivist_innen zu schaffen, im lokalen französischen Präsidentschaftswahlkampf eine gewisse Rolle. Der konservative Abgeordnete Pierre-Henri Dumont aus Calais Nachbargemeinde Marck nannte im Januar das verbotswidrige Verteilen von Nahrungs- und Hilfsgütern im Umfeld der Camps als Delikt, das auf diese Weise sanktioniert werden solle.
[Update: Matthew wurde am 10. Mai nach Großbritannien abgeschoben. Utopia 56 kommentierte: „Es wurde kein stichhaltiger Grund für diese Abschiebung angegeben, außer dass er den Brief mit der Mitteilung, dass er das französische Hoheitsgebiet verlassen müsse, nicht erhalten hatte. Was war sein Vergehen? Er hatte sich für die Bereitstellung menschenwürdiger Unterkünfte für die an der Grenze in Calais gestrandeten Menschen und allgemein für die Achtung der Rechte von Menschen im Exil eingesetzt.“]
Erklärung von Matthew R.
My name is R., a British citizen and acitivist in Calais in solidarity with displaced people and implicated in squat openings this February. An thism moment, I am assigned to residency in a state accomodation facility 45 minutes by car from my home. I’m the object of an OQTF (an obligation to leave French territory), an IRTF (a ban to return to France & Schengen territory for one year), and the French authorities have taken away my right to live and work in France. I’m „free“ since Monday after having spent 3 nights in the Lesquin CRA (deport centre in Lille) and having been detained by Calais border police for 15 hours (I was transferred from Calais to Lille to move me further from my comrades).
The authorities targeted me because for 2 years I have fought for the right of displaced people in Calais. They targeted me because we opened a space where our administrative situation had no importance, a space belonging to displaced people and protected from state violence, and because we began to build a solidarity network between everyone who fights for the rights of displaced people in France and beyond. The state wants displaced people to be alone, tired, sleeping on the street, and without legal resource; they don’t want people with papers to support them. And so, they don’t understand that this will not change anything except to energise, motivate, and enrage activists in Calais and beyond because, with these repressive acts, they say to us „your activities threaten the smooth running of our violent politics“.
I think I speak for everyone I met on the inside of the deport centre when I say that the authorities treat us like animals. The police officers are fully aware of the fact that they can do whatever they want inside without having to fear of any repercussions. They don’t bring us our belongings, they leave us to sleep on the floor, and no one informs us about the progress of our legal proceedings on the outside. During a visit, I began to tell my friend about the situation inside, and a police officer ended the visit early to stop me from doing so. I thank the people detained with me for not hesitating to share their food, blankets, and clothing with me and with the others who were in need, and I deeply hope they will be freed soon. My thoughts are with my comrade K. detained the same day as me, who has lived for 5 years in France without papers, who works as a hairdresser, and who has never done harm to anyone; his sole crime is to exist.
The French state is a repressive state, and the (in)justice system is complicit. In Calais, evictions of living sites, police violence, racial profiling, and detention, an entire machine of repressive and inhumane violence justified by the (in)justice system, happen without any consequences for the authorities who give the orders of the officers who execute them. The French-British border is a profoundly racist, violence, and unjust border, a veritable playground for a particulary sadistic administration and police force. We need to understandthat the repression that I have recently experienced is considered as particulary scandalous only because I am a European activist: displaced people living in Calais experience a thousand times worse and no one talks about it.
Abolish the Police. Demolish the borders. Burn the deport centres.
[Die Erklärung wurde am 6. Mai 2022 von Calais Logement Pour Toustes in mehreren Sprachen veröffentlicht.]