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Calais

Ein mutmaßlicher Suizid (2)

Über den jungen Mann, dessen Leichnam am 11. Mai erhängt in einem Lastwagenanhänger im Gerbegebiet Transmarck entdeckt wurde, ist inzwischen Näheres bekannt. Bewohner_innen des Old Lidl-Camps identifizierten ihn als Hassan, 27 Jahre alt, und anders als zunächst gemeldet, kam er nicht aus Eritrea, sondern dem Sudan. „Die Politik an den Grenzen tötet. […] Welche emotionalen Auswirkungen hat das auf die Exilierten?“, hatte eine am Ort tätige zivilgesellschaftliche Gruppe nach dem mutmaßlichen Suizid geschrieben (siehe hier). Eine Reportage des französischen Blogs InfoMigrants beantwortet dies nicht – wie auch? Aber sie skizziert die Situation einiger junger Männer, die mit Hassans Tod konfrontiert sind. Am Tag, als die Reportage erschien, wurde Hassans Camp einmal mehr geräumt.

„Seine Freunde beschrieben ihn als einen unauffälligen, aber deprimierten jungen Mann“, schreibt InfoMigrants über Hassan. „Seinen Freunden zufolge war Hassan in den letzten Tagen ‚sehr müde‘. Er war vom Exil und den Lebensbedingungen in Calais erschöpft und dachte daran, in den Sudan zurückzukehren. Er war 2015 nach Europa gekommen und hatte in Deutschland, Frankreich und der Schweiz Asyl beantragt. ‚Alle drei Länder weigerten sich, ihm Schutz zu gewähren‘, erzählt Aladdin. England stellte seine letzte Chance dar. ‚Aber er hatte wohl die Hoffnung aufgegeben…‘“

Hassan teilte damit ein Muster, das die kollektive Biographie tausender Exilierter darstellt, die nach teils langem Aufenthalt in Deutschland oder anderen EU-Ländern aufgrund der Dublin-Regeln nach Calais aufbrechen, nicht weil sie sich noch auf der Flucht befinden, sondern weil sie nach ihrer Flucht zu Displaced People geworden sind. Als integraler Teil der europäischen Bevölkerung – und zwar nicht temporär, sondern dauerhaft, aber in einer Art von erzwungenem Nomadentum – existieren sie in einem Zustand der geleugneten Existenz. Orte wie Old Lidl konterkarieren diese Leugnung, indem sie die Existenz dieser europäischen Bevölkerungsgruppe sichtbar machen, und vielleicht ist dies das eigentliche Motiv jener potenziell tödlichen Kombination aus Invisibilisierung und Gewalt, der Orte wie Old Lidl kontinuierlich und systematisch ausgesetzt sind.

Als wir das Camp vor zwei Monaten besuchten, war es gerade umgepflügt worden, sodass die Zelte buchstäblich in die Lücke zwischen dem gepflügten Gelände und dem vorbeiführenden Bahnkörper auswichen, und genau an dieser Bahn war ein paar Tage zuvor am Eingang des Camps ein Mann von einem Zug getötet worden. Am 13. Mai, zwei Tage nach Hassans Tod, war das Camp einmal wieder einer Räumung unterworfen. „Alle wurden am frühen Morgen aus ihren Zelten vertrieben. Paletten, Lebensmittel und andere Gegenstände wurden konfisziert, während die Migranten in der Nähe ausharrten, um zu sehen, was von ihrem Besitz übrig geblieben war,“ so die Lokalzeitung La Voix du Nord. „Die Exilierten haben die Wahl, entweder vertrieben zu werden oder in einen Bus mit unbekanntem Ziel zu steigen. Da sie hinter einer Absperrung festhängen, ist es ihnen unmöglich, ihre Zelte und ihre Sachen zurückzubekommen, die vor ihren Augen beschlagnahmt wurden“, erläuterten die Human Rights Observers ihre Videodokumentation dieser Räumung. Es handelte sich um eine Räumung jenes Typs, der offiziell eine humanitäre Maßnahme zum Schutz der Betroffenen darstellt, die dann mehr oder weniger freiwillig in Aufnahmezentren außerhalb von Calais gebracht werden. Während bei anderen Räumungen nicht selten über hundert Personen abtransportiert werden, von denen so gut wie alle kurz darauf zurückkehren, waren es in diesem Fall fünfzehn.

Räumung des Old Lidl am 13. Mai 2022. (Video: Human Rights Observers / Twitter)

Bewohner_innen des Old Lidl hatten Hassans Leichnam entdeckt. InfoMigrants schreibt über einen von ihnen: „Ibrahim, ein […] Freund Hassans, der ebenfalls die sudanesische Staatsangehörigkeit besitzt, ist noch immer geschockt. ‚Ich war im Camp, als ich die Gerüchte hörte, dass eine Leiche in einem LKW gefunden wurde. Es herrschte hier eine Atmosphäre der Angst‘, erinnert er sich. ‚Ich weiß, dass es Leute waren, die im Camp lebten, die ihn zufällig entdeckten. Sie haben ein Foto von der Leiche gemacht und sind dann zurückgekommen, um uns zu informieren‘. Ibrahim erkannte seinen Freund. ‚Ich eilte mit anderen Sudanesen zum Ort des Geschehens. Wir waren ungefähr 30 Personen. Ich näherte mich dem Lastwagen und fand Hassan leblos vor. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben. Es war schrecklich‘. Als die Polizei eintraf, ‚schrien und weinten die Leute‘, berichtet Ibrahim weiter. ‚Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Es ist so schockierend‘. Für den jungen Mann ist es nicht das erste Drama. Im Februar hatte er bereits den Tod eines anderen Sudanesen miterlebt, der von einem Zug erfasst worden war. ‚Ich habe hier schon zwei Tote gesehen. Mein Herz ist hart geworden‘.“

„Er hat nicht viel gesprochen und war nicht sehr gesellig. Vielleicht haben die neuesten Nachrichten, dass das Vereinigte Königreich plant, Migranten wie uns nach Ruanda zu schicken, seine Verzweiflung nur noch verstärkt“, zitiert InfoMigrants Aladdin, einen anderen Freund des Toten und ebenfalls ein Bewohner des Old Lidl. Ob die Angst vor der sogenannten britisch-ruandischen Asylpartnerschaft, tatsächlich ein radikales Abschiebungsprojekt, tatsächlich eine Rolle gespielt hat, wird sich wohl nie klären lassen. Ihre emotionale Wirkung jedoch ist brutal. „Ich habe Angst, dass sich auch andere Menschen dazu entschließen, Selbstmord zu begehen. […] Jahre unseres Lebens werden in Europa verschwendet, während wir hier sind, einfach auf der Suche nach einer Möglichkeit, in Frieden zu leben“, so Aladdin gegenüber InfoMigrants. Und Ibrahim: „Die Leute im Lager sind am Boden zerstört, weil Hassan verschwunden ist, aber ich werde die Hoffnung nicht aufgeben. Ich werde geduldig sein und versuchen, nach England zu kommen. Ich habe keine Angst.“

Displaced People in Old Lidl versuchen nun, über Social Media Kontakt zu Angehörigen von Hassan aufzunehmen, um sie über dessen Tod zu informieren. Auch zivilgesellschaftliche Gruppen haben dies in ähnlichen Fällen bereits getan und werden, so nehme ich an, auch jetzt tätig sein.

[Update, 19. Mai 2022: Medienberichten zufolge bestätigte die Staatsanwaltschaft nach einer Autopsie die Todesursache Suizid; ebenfalls wurde bestätigt, dass der Mann sudanischer und nicht eritreischer Nationalität war.]