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Calais

Ein mutmaßlicher Suizid

Gedenktafel in Calais für die Opfer der Grenze. (Foto: Th. Müller)

Im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais fanden Geflüchtete am gestrigen 11. Mai 2022 die Leiche eines jungen Mannes vermutlich aus Eritrea. Er befand sich erhängt in einem stillgelegten Lastwagenanhänger und es wird vermutet, dass er sich selbst das Leben genommen hat. Wenn dies tatsächlich so war: Was sagt dieser Tod über die Grenze?

Bislang sind weder die Identität des Toten noch die Todesumstände geklärt. Wie die Zeitungen La Voix du Nord und NordLittoral berichteten, war der Mann etwa zwanzig Jahre alt oder etwas älter. Gegen 16 Uhr fanden drei Geflüchtete seine Leiche in dem kaputten und unbenutzten Anhänger, der auf dem Parkplatz der Firma Channel abgestellt war. Die drei verständigten die Polizei. Zu diesem Zeitpunkt war der Mann bereits seit einigen Stunden tot. Die zuständige Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer ordnete eine Autopsie zur Klärung der Todesursache an.

Die Firma Channel befindet sich in der Nähe eines Kreisverkehrs inmitten des Gewerbegebiets Transmarck, wo Exilierte häufig und unter Gefahr für Leib und Leben versuchen, auf ein Fahrzeug aufzuspringen, das via Kanalfähre nach Großbritannien fährt. Seit einigen Jahren werden Unternehmen der Logistikbranche gezielt in diesem Gewerbegebiet angesiedelt, das durch Zäune, Überwachungstechnik und eine starke Polizeipräsenz massiv sekuritisiert ist. Seit vergangenem Herbst häufen sich in und um Transmarck die Todesfälle von Exilierten, etwa ein Mensch pro Monat starb während der Wintermonate in diesem Kontext (siehe u.a. hier). Der Kreisverkehr mit dem in großen Lettern sichtbaren Namen der Gemeinde Marck – eine alte Bezeichnung für Grenze – stellt so etwas wie das geographische und symbolische Zentrum dieser hochriskanten Transitzone dar.

Offenbar war der Todesort des jungen Mannes auch sein letzter Lebensort gewesen. „Nach unseren Informationen“, schreibt NordLittoral, „lebte der Mann in dem Anhänger, in dem er die Nächte verbrachte. Er wurde letzte Nacht in der Nähe der Anhänger gesehen, die auf dem Gelände des Karosseriebaubetriebs abgestellt waren. Da das Firmengelände gut gesichert ist, musste er wahrscheinlich über eines der verschlossenen Metalltore klettern, um in seinen Unterschlupf zu gelangen und dort seine Nächte zu verbringen.“

„Wir sind sehr wütend. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und all jenen, die hier gestrandet sind. Morgen und in den nächsten Tagen wollen wir seiner gedenken,“ erklärte Utopia 56 nach dem Bekanntwerden des mutmaßlichen Suizids. „Die Politik an den Grenzen tötet. Wir dürfen nicht gleichgültig bleiben. Welche emotionalen Auswirkungen hat das auf die Exilierten? Und für die Zeugen?“ fragte das Calais Food Collective, das selbst mit drei Freiwilligen vor Ort war.

Welche Auswirkungen die Grenze auf die emotionale Lage der displaced people hat, ist die zentrale Frage dieses Falls, gleich ob sich die Todesursache Suizid bestätigt oder nicht. Sie verweist auf Todesumstände, die keine Autopsie benennen wird.