Kategorien
Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Über 600 Räumungen seit Jahresbeginn

Räumung bei Dunkerque. (Foto: Human Rights Observers)

Im Gebiet von Calais und Dunkerque haben seit Jahresbeginn mehr als 600 Räumungen informeller Lebensorte von Exilierten stattgefunden. Während die Polizeioperationen in Calais weiterhin in großer Zahl und enger zeitliche Taktung durchgeführt werden, finden sie in Grande-Synthe und anderen Randbereichen von Dunkerque seltener, dafür aber sehr viel massiver statt. Die kontinuierliche Beobachtung durch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Observers (HRO) zeigt Kontinuitäten und Veränderungen dieser grenzpolitischen Praxis, vor allem aber dokumentieren sie den anhaltenden menschenrechtlichen Erosionsprozess an der französischen Kanalküste. Gleichzeitig versucht HRO, diese Zustände mit rechtlichen Mitteln anzugreifen.

Calais: Enge Taktung und große Zahl

Die Taktik der Polizeibehörden richtet sich in Calais und Umgebung seit 2016 gegen die physische und rechtliche Fixierung der Camps, die im Behördenjargon als „Fixierungspunkte“ bezeichnet werden. Weiterhin werden die bekannten Camps im Abstand von 48 Stunden – aber oft mit zeitlichen Abweichungen, die die Operationen schwerer vorhersehbar machen – geräumt, um danach von den Bewohner_innen wieder in Besitz genommen zu werden. Nicht rechtzeitig mitgenommene Zelte und Gegenstände werden weiterhin beschlagnahmt und können nur teilweise von ihren Besitzer_innen zurückerlangt werden. Die Räumungen sind (wie auch bei Dunkerque) mit teils missbräuchlichen Indentitätsfeststellungen verbunden, gefolgt von willkürlichen Verhaftungen bis hin zur Abschiebung; hinzu kommen weitere Festnahmen außerhalb der wiederkehrenden Räumungssituation.

Von den 585 Räumungen, die HRO von Januar bis April in Calais dokumentierte, entsprachen 579 diesem seriellen Typus. Bei den übrigen sechs handelte es sich um größere Operationen, die formell dem Schutz und der Unterbringung der Bewohner_innen dienen, wobei diese oft gegen ihren Willen in Aufnahmeeinrichtungen (CAES) außerhalb von Calais gebracht werden. Wer zurückkehrt, findet eine prekärere Situation vor.

Nach einer Räumung zur (oft unfreiwilligen) Unterbringung der Geflüchteten, Januar 2022 (Video: Auberge des Migrants / Twitter)

Die Zahl der Räumungen hat damit stark zugenommen: Ihre Zahl betrug im Vorjahr in Calais 1.226, also das Doppelte der Zahl, die in diesem Jahr bereits im Mai erreicht war. Fanden 2021 durchschnittlich 102 Räumungen im Monat statt, sind es in diesem Jahr durchschnittlich 146. Im März erreichte ihre Zahl mit 168 einen bisherigen Höhepunkt. Auch im Mai zeichnet sich eine vergleichbare Zahl von Räumungen ab. Allein in der Woche vom 16. bis 21. Mai wurden 30 Räumungen registriert. Am Monatsende wird die Zahl auf 700 seit Jahresbeginn gestiegen sein.

Im Verlauf der Räumungen geschahen von Januar bis April 74 Festnahmen. Beschlagnahmt wurden – soweit es zu beobachten war – 914 Zelte und Schutzplanen, 114 Taschen und Rucksäcke, 109 Decken und Schlafsäcke und 30 Matratzen, ferner 15 Stühle, Brennholz und ein Fahrrad. Der Umfang der Beschlagnahmungen ist hoch, aber nicht so hoch wie im vergangenen Jahr. Waren den Betroffenen damals im Monatsdurchschnitt 482 Zelte und Schutzplanen weggenommen worden, waren es nun 228.

Räumung mehrerer Camps in Calais am 11. Mai 2022. (Video: Human Rights Observers / Twitter)

Die vom französischen Staat während des Hungerstreiks im Oktober und November 2021 zugesagten Verbesserungen (siehe hier) werden nur selektiv eingehalten. Zwar wurde die zugesagte Rückgabestelle für einen Teil der beschlagnahmten Sachen eröffnet, doch werden die Bewohner_innen der Camps nicht, wie ebenfalls zugesagt, rechtzeitig über die bevorstehende Räumung informiert, damit sie ihre Sachen packen und bis zum Ende der Räumung zwischenlagern können.

Kontinuierlich dokumentierte HRO physische und verbale Einschüchterungen sowohl gegen Exilierte, als auch gegen die eigenen Teams. Diese Gewalt bewegt sich meist auf einem Level unterhalb dessen, was im medialen und politischen Raum noch als Skandal begriffen würde. Für den Monat März hielten die HRO-Teams fest: „Am 10.03. bedrohte ein CRS’ler eine displaced person, indem er sie anschrie und sein Tränengasspray zückte, als er bemerkte, dass diese ihre Sachen holen wollte.“ Im Februar wurde beobachtet: „Am 01.02. scherzte ein CRS’ler darüber, dass es ziemlich windig sei, und er fragte sich, wo die Geschosse seines Granatwerfers [gemeint ist wohl das Abschussgerät für CS-Gas] wohl landen würden.“ Hinzu kommen Weigerungen, persönliches Eigentum herauszugeben, das Abfotografieren von Personen und das Witzereissen über die Geräumten. Im April machte sich beispielsweise ein Beamter über einen Mann lustig, der sein Zelt abbauen musste: Er solle sein Haus nicht vergessen. Dafür erntete er die Lacher seiner Kollegen.

HRO stellte Anfang April am Eingang mehrerer Camps Briefkästen mit den Namen einiger Bewohner_innen und juristischen Belehrungen auf. Die Aktion sollte und soll die Behörden daran hindern, Zwangsräumungen durchzuführen, ohne dass die Betroffenen sich dagegen rechtlich zur Wehr setzen können (siehe hier), d.h. Räumungen würden dann nicht mehr in der jetzt etablierten Form stattfinden können. Erreicht wurde dies bislang nicht. „Am 11. April registrierte HRO eine groß angelegte Räumungsaktion, obwohl ein Briefkasten mit den Namen von Bewohnern des informellen Lebensorts angebracht war. Darin wurde auf den Rechtsweg zur Durchführung einer Zwangsräumung unter Wahrung der Verteidigungsrechte hingewiesen. Entgegen dem Gesetz wurden die Menschen nicht informiert. Alle persönlichen Gegenstände wurden ebenfalls beschlagnahmt.“ Bereits kurz nach der Aufstellung waren die meisten Briefkästen von Unbekannten zerstört worden. Eine solche Sabotage wiederholte sich am 10. Mai.

Dunkerque: Massive Räumungen in kleinerer Zahl

In Grande-Synthe und anderen westlichen Randgebieten von Dunkerque fanden von Januar bis April zwölf Räumungen statt, im Durchschnitt etwas weniger als im vergangenen Jahr. Allerdings sind die Camps kontinuierlich größer und komplexer geworden. Sie ähneln mehr und mehr den informellen Siedlungen, die ab den späten Nullerjahren als Jungles of Calais internationale Bekanntheit erlangten. Während die Anti-Fixierungspunkt-Taktik der Behörden in Calais eine solche Entwicklung frühzeitig zu verhindern versucht, sind die Räumungen im Raum Dunkerque auf diese größeren Camps hin angelegt und fallen um so massiver aus. Sie sind mit Unterbringungen in Aufnahmezentren verbunden, allerdings geschieht auch dies nicht immer freiwillig; meist bleibt ein Großteil der Betroffenen zurück, ohne überhaupt untergebracht worden zu sein.

Im Zuge der zwölf bis Ende April dokumentierten Räumungen geschahen acht Festnahmen. Beschlagnahmt bzw. zerstört wurden 862 Zelte und Planen, sieben Hütten, 412 Decken und Schlafsäcke sowie Rucksäcke, Kleidung und fünf Wassertanks. Dabei handelt es sich um Großbehälter, die von zivilgesellschaftlichen Akteuren als einzige Quelle für Trinkwasser aufgestellt und regelmäßig befüllt wurden.

Räumung in Grande-Synthe, 5. Mai 2022. (Video: Human Rights Observers / Twitter)

Ein Beispiel für die Massivität der Räumungen liefert der 28. April. HRO hält dazu fest: „Dabei wurden persönliche Gegenstände (Zelte, Decken, Taschen, Ausweispapiere, Handys, Medikamente, Kleidung usw.) zerstört und in einen Müllcontainer geworfen, manchmal ohne dass die Besitzer sie wieder an sich nehmen durften. Diese rechtswidrigen Handlungen (Artikel 322-1 ff. des Strafgesetzbuchs) wurden vor den Augen der mit der Räumung beauftragten Gerichtsvollzieher begangen.“

Monat für Monat dokumentierte HRO außerdem „den systematischen Einsatz von schwerem Gerät, darunter Traktoren und Bagger, um die persönlichen Gegenstände der geräumten Personen zu zerstören und die Räume zu leeren. Und das, obwohl die Besitzer_innen dieser Gegenstände oft in der Nähe des Einsatzes waren.“ Die Zerstörung der Zelte und Hütten durch das damit beauftragte Unternehmen Ramery geschehe, so HRO, unter Aufsicht der staatlichen Behörden. Nach der Räumung eines Camps in einem ehemaligen Velodrom am 31. März wurde der Boden außerdem mit einem Bagger aufgebrochen. Die Arbeiten reihten sich in eine Folge von Umweltveränderungen wie Pflügungen, Rodungen und Einzäunungen ein, die den Boden für die Neubesiedlung unbrauchbar oder unzugänglich machen sollen (siehe zuletzt hier).

Image
Zerstörung eines ehemaligen Velodrom in Grande-Synthe im Anschluss an die Räumung eines Camps, 31. März 2022. (Foto: Human Rights Observers)

Hinzu kommt auch hier physische wie verbale Gewalt. Über die Räumung am 24. Februar 2022 schreibt HRO beispielsweise: „Den Beobachter_innen wurde berichtet, dass eine displaced person von einem CRS’ler mit einem Stock geschlagen worden war. HRO sah, dass diese Person nicht mehr laufen konnte und ins Krankenhaus gebracht werden musste; HRO sprach mit einer displaced person, die sagte, dass ihr Telefon noch in ihrem Zelt lag. Auf die Frage an einen Polizeibeamten, ob es möglich sei, dieses Telefon wiederzubekommen, verweigerte dieser den Zutritt zum Camp mit dem Hinweis, dass das Telefon zerstört werde; […] schließlich sahen die Beobachter_innen, wie CRS’ler einem unbegleiteten Minderjährigen, der untergebracht werden wollte, den Zutritt […] verwehrten. Einer von ihnen antwortete den Beobachter_innen: ‚Dafür werden wir nicht bezahlt‘.“

Auch in Dunkerque geht HRO juristisch gegen die Räumungspolitik vor. Am 10. Mai verklagte die Menschenrechtsorganisation gemeinsam mit Utopia 56 die Kommune Grande-Synthe. Ziel ist die gerichtliche Feststellung der Illegalität zweier Räumungen 10. und 26. Oktober 2021, insbesondere der dabei vorgenommenen Beschlagnahmungen von persönlichem Eigentum. Eine vergleichbare Klage war in Calais erfolgreich verlaufen (siehe hier).

PS. Am 7. Juni wird die Menschenrechtsorganisation ihren Jahresbericht 2021 vorlegen.