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Calais Corona

Antimigratischer Missbrauch der Corona-Maßnahmen

Gesammelte Verwarnungen. (Quelle: Utopia 56 / Twitter)

Im Schatten der rechtlichen Auseinandersetzungen um den britisch-ruandischen Migrationsdeal hat die Organisation Human Rights Observers (HRO) auf einem anderen Feld einen juristischen Erfolg errungen. Dabei ging es um die Frage, ob die während der Corona-Pandemie massenhaft gegen ihre Mitglieder ausgesprochenen Verwarnungen rechtmäßig waren. Die Behörden hatten während der pandemiebedingten Lockdowns immer wieder Angehörige zivilgesellschaftlicher Organisationen mit Bußgeldern belegt, die Räumungen der Camps beobachtet oder andere menschenrechtspolitische und humanitäre Arbeit geleistet hatten. Das zuständige Gericht in Boulogne-sur-Mer gab nun zwei Betroffenen recht, die diese Praxis angefechtet hatten.

Als in kritischen Phasen der Pandemie in Frankreich teils rigorose Ausgangs- und Mobilitätsbeschränkungen galten, stellte dies die zivilgesellschaftliche Infrastrutkur in Calais vor erhebliche Probleme, sodass auch elementare Hilfeleistungen zeitweise nur eingeschränkt fortgeführt werden konnten (siehe hier). Nichtsdestotrotz hielten die Behörden an ihrer Praxis der permanenten Räumungen migrantischer Camps im Turnus von etwa 48 Stunden fest und beschlagnahmten weiterhin Zelte und anderen persönlichen Besitz (siehe hier).

Eine Fortführung menschenrechtspolitischer und humanitärer Arbeit war in dieser Phase nicht nur menschlich notwendig, sondern zur „Unterstützung von gefährdeten und prekären Personen“ im Rahmen der Corona-Maßnahmen ausdrücklich erlaubt, sofern eine Bescheinigung hierüber vorlag. Dieser Nachweis war durchgängig vorhanden. Dennoch erteilten die Ordnungsbehörden mindestens 130 Verwarnungen wegen „illegaler Fortbewegung“ gegen Mitarbeiter_innen und Freiwillige der beiden Vereinigungen HRO und Utopia 56. Die Summe der damit verbundenen Bußgelder beläuft sich auf etwa 20.000 €. Diese Sanktionen unterbanden die Arbeit der beiden Organisationen zwar nicht, erschwerten sie aber beispielsweise dadurch, dass die Beobachtung von Räumungen nicht mehr im bisherigen Umfang möglich war und aus größerer Distanz erfolgen musste. In anderen Fällen richteten sich die Verwarnungen gegen die Verteilung von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern sowie gegen humanitäre, soziale und rechtliche Hilfen im Rahmen von marauds, d.h. bei aufsuchenden Fahrten hin zu Betroffenen, die sonst kaum erreichbar wären.

HRO erklärte in einer Stellungnahme zur aktuellen Gerichtsentscheidung: „Unserer Ansicht nach zielten diese Verwarnungen nur darauf ab, unsere Aktionen zu behindern und das reibungslose Funktionieren unserer Struktur zu beeinträchtigen, und sind Teil eines allgemeinen Kontexts polizeilicher und institutioneller Behinderungen und Einschüchterungen der Vereinigungen und ihrer Mitglieder.“

Allerdings, so HRO weiter, war die Anfechtung der Verwarnungen mit erheblichem Aufwand verbunden: „Jeder dieser Strafzettel muss einzeln in einem gesetzlichen Verfahren, das besonders abschreckend ist, angefochten werden“. Dies bedeute „eine erhebliche Arbeitsbelastung für unser Team“ und binde Kräfte, die sonst der menschenrechtspolitischen Arbeit zur Verfügung stünden.

Das erste Urteil fiel nun am 20. Juni 2022 und gab den Kläger_innen recht: Das Gericht stellte fest, dass die beiden Mitglieder von HRO den Ordnungskräften einen gültigen Nachweis über ihre Tätigkeit vorgelegt hätten, trotzdem aber mit einem Bußgeld belegt worden seien. „Diese Entscheidung bestätigt den missbräuchlichen und unbegründeten Charakter der Strafzettel“, kommentiert HRO.

Die Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie sind, so zeigt die Entscheidung des Gerichts, also für eine antimigrantische Polizeipraxis instrumentalisiert worden. Die Verwarnung von Anghörigen der Menschenrechtsgruppe ähnelt einem Bündel von Verwaltungsmaßnahmen, die den Zugang der Exilierten zu elementaren Ressourcen dadurch erschweren, dass sie den Druck auf zivilgesellschaftliche Akteure erhöhen.

Dazu gehören beispielsweise die seit dem Herbst 2020 von Mal zu Mal verlängerten Verbote, in bestimmten Teilen der Stadt Wasser, Nahrung und andere Hilfsgüter an Exilierte zu verteilen, oder die Einrichtung weitläufiger Parkverbote im Umfeld bekannter Camps, um Helfer_innen und Aktivist_innen mit Bußgeldern zu überziehen. So teilt das Calais Food Collective mit, es habe im Rahmen der Verteilung von Wasser und Lebensmitteln „innerhalb von sechs Monaten […] Bußgelder im Höhe von 1.200 € erhalten“, verbunden damit waren „21 Punkte auf den Führerscheinen der Freiwilligen“.

Aus Sicht von HRO ist das aktuelle Urteil zwar „ein symbolischer und ermutigender Sieg“. Doch es mache „die Politik der Behinderung und Schikanierung nicht ungeschehen“, die von den Behörden an der französisch-britischen Grenze gerade gegen diejenigen betrieben werde, „die tagtäglich die Versäumnisse des Staates bei der Unterstützung von exilierten und vulnerablen Menschen beheben.“

Die politische Motivation dieser Praxis zeigt sich auch in folgender Anekdote: Am 20. April 2021 fragte die Abgeordnete Stella Dupont (LREM) den Innenminister Gérald Darmanin nach der Rechtsgrundlage für die Verwarnungen. Fast genau ein Jahr später, am 19. April 2022, antwortete der Minister, dass der Ausnahmegrund der Unterstützung einer gefährdeten oder prekären Person „offensichtlich missbraucht wurde“. Die Mitglieder der zivilgesellschaftlichen Organisationen würden keine humanitären Aktionen durchführen, sondern als „Zensoren“ der Polizei agieren.