Im Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque kam es am 30. August 2022 zu einem massiven Gewaltakt. Eine bewaffnete Gruppe schoss auf sudanische Bewohner_innen des Camps und verletzte neun Personen teils schwer. Hintergrund der Tat, die sich offenbar gezielt gegen die sudanische Community richtete, scheint die Durchsetzung geschäftlicher Interessen einer kurdischen Schleuserorganisation zu sein, allerdings könnten auch die prekären Verhältnisse im Camp den Konflikt geschürt haben. In der Nacht zum 1. September fielen erneut Schüsse. Das Geschehen wirft ein Schlaglicht auf eine Form ökonomisch motivierter Gewalt, die aus der Verschließung legaler Migrationswege resultiert und dabei selbst eine rassistische Dimension aufweist.
Das als „Jungle“ bekannte Camp, über das wir bereits mehrfach berichteten (siehe hier, hier und hier), liegt am westlichen Rand von Dunkerque in der Nähe der Orte Loon-Plage und Grande-Synthe. Es gilt aus Ausgangspunkt für Bootspassagen nach Großbritannien. Zum Zeitpunkt der Tat lebten dort rund 500 Menschen unterschiedlicher Nationalität. Grundlegende humanitäre Infrastrukten sind nicht vorhanden, sofern sie nicht von zivilgesellschaftlichen Gruppen bereitgestellt werden. Das Camp wird, wie im Raum Dunkerque seit vielen Jahren gängig, von kurdischen Schleuser_innen kontrolliert, die wie eine Mafia agieren. Die Behörden sind nicht willens oder nicht in der Lage, diese Aneignung eines Machtmonopols wirksam zu unterbinden und die Menschen in den Camps vor Übergriffen zu schützen.
Die Zeitung La Voix zu Nord berichtet unter Berufung auf Augenzeug_innen und die Polizei, dass es am Nachmittag des 30. August im Jungle zu Auseinandersetzungen zwischen der sudanischen Community und Kurd_innen gekommen sei. „Die Sudaner, die nur über geringe finanzielle Mittel verfügen, werden von den kurdischen Schleusern, die das Camp betreiben und die Überfahrten nach England organisieren, als zweitrangige ‚Kunden‘ betrachtet. Sie werden sogar offen verachtet.“ Um die „Rebellionsbestrebungen der afrikanischen Community im Keim zu ersticken“, hätten die Schleuser dann am Abend eine Art Strafexpedition durchgeführt. Die Zeitung vergleicht ihr Agieren mit dem „Wilden Westen“.
Dieser Angriff sei, so das Blatt, von „ein[em] Dutzend bewaffneter Kurden“ durchgeführt worden, die eigens zu diesem Zweck gekommen seien. Ein erster Verletzter sei gegen 21 Uhr im nahe gelegenen Puythouck-Gelände in Grande-Synthe von Rettungskräften versorgt worden. „Auf dem Weg zwischen Puythouck und dem Camp Loon-Plage entdeckten die Rettungskräfte jedoch nach und nach das Ausmaß der Katastrophe und sammelten Schussverletzte bis zum Eingang des Camps auf.“ Anscheinend hatten die Angreifer bewußt auf Sudaner geschossen, was bedeutet, dass sie ihre Opfer anhand der Hautfarbe ausgewählt hatten. Die Polizei habe am Ort der Schießerei etwa zwanzig Patronenhülsen gefunden. Die Täter konnten entkommen; gegen sie wird wegen versuchten Mordes ermittelt.
Insgesamt wurden neun Geflüchtete aus dem Sudan durch Schüsse verletzt, zwei von ihnen schwer. Die Verletzten wurden in verschiedenen Krankenhäusern der Region versorgt. Der Zustand der beiden Schwerverletzten ist noch immer besorgniserregend.
Die Darstellung und Einordnung des Geschehens durch La Voix du Nord erscheint schlüssig, allerdings sind auch andere Lesareten der Situation möglich. So merkt eine Sprecherin der Human Rights Observers, die durch ihre Dokumentation polizeilicher Räumungen mit der Situation der Camps vertraut sind, gegenüber InfoMigrants an: „Das alles ist nur Mundpropaganda, das sind keine zuverlässigen Informationen.“ Allein die prekäre Lage der Menschen im Camp, in dem selbst der Zugang zu Trinkwasser fehlt, sei konfliktträchtig. „Hier streitet man sich um einen Platz, ein Stück Land, Wasser oder Essen“.
Am folgenden Tag, dem 31. August, räumte die Polizei den Jungle von Loon-Plage. „Etwas mehr als 500 Migranten stiegen in vom Staat gecharterte Busse, um in Unterkünfte zu gelangen“, schrieb La Voix du Nord. Nach Beobachtung der Organisation Utopia 56, die ebenfalls gut mit der lokalen Situation vertraut ist, wurden jedoch nur rund 50 Personen in Unterkünfte gebracht – Utopia 56 sprach von bewußter „Desinformation“ durch die Behörden. Die Zeitung stellte daraufhin richtig: „Die Unterbringungsaktion, die am Mittwochmorgen stattfand, führte nicht zu einem Rückgang der Migrantenpopulation. Das Camp wurde fast sofort wieder aufgebaut. Während fünfhundert Exilierte aufgefordert wurden, in Busse zu steigen, um zu Aufnahmezentren und Notunterkünften zu gelangen, entschieden sich nur etwa fünfzig für diese Option.“
Die Gewalt endete damit nicht. In der Nacht vom 31. August zum 1. September fielen, wie La Voix du Nord unter Berufung auf Augenzeug_innen und die Polizei meldet, „mindestens 50 Schüsse in der Umgebung des Camps“, möglicherweise sei auch „mit einer automatischen Waffe vom Typ Kalaschnikow“ geschossen worden. Da niemand verletzt worden sein, vermutet die Zeitung, dass „die Schüsse abgefeuert [wurden], um die Exilierten einzuschüchtern und zu terrorisieren.“ Zwar seien die Rettungskräfte erneut wegen einer Schussverletzung alarmiert worden, doch habe sich herausgestellt, dass die betroffene Person in Wirklichkeit einen Schwächeanfall erlitten hatte.
Die Ereignisse fügen sich in ein Muster, das seit vielen Jahren im Raum Dunkerque bzw. Grande-Synthe zu beobachten ist. Zuletzt wurden zwischen dem 22. und 25. Mai 2022 ein kurdischer Mann erschossen und mehrere weitere durch Schüsse verletzt, außerdem lösten in der Nähe des Campeingangs abgegebene Salven eine Panik aus. Als Hintergrund der Auseinandersetzungen im Mai wird ein Konkurrenzkampf bzw. eine Abrechnung zwischen Schleuserorganisationen angenommen (siehe hier). Seitdem gilt die Situation als besonders angespannt. Hinzu kommen zwei weitere Todesfälle im Laufe des Sommers: Ein Bewohner des Camps starb vermutlich durch Suizid, ein anderer ertrank, als er sich mangels sanitärer Anlagen am Ufer eines Schifffahrtskanal wusch (siehe hier und hier).