Dimensionen der Post-Brexit-Grenzpolitik: Nach dem Ende der Operation Isotrope
Zwei Jahre nach dem Vollzug des Brexit durchläuft die britische Grenzpolitik eine vielschichtige Transformation, deren Dimensionen wir in einer unregelmäßigen Serie von Beiträgen ausleuchten (siehe hier). Wir beschäftigen uns nun mit dem Small Boats Operational Command, einer am 31. Januar 2023 eingerichteten Behörde zur Bekämpfung der Bootspassagen des Ärmelkanals. Damit endete die Operation Isotrope, mit der die Grenzpolitik im April 2022 unter eine militärische Leitung gestellt worden war. Allerdings bedeutet die Rückübertragung der Befugnisse auf eine zivile Einrichtung keine Demilitarisierung oder gar Demokratisierung des Grenzregimes. Vielmehr verstärkt das Small Boats Operational Command die Verschmelzung militärischer und ziviler Strukturen zu einem hochorganisierten und restriktiven Grenzregime.
Die Operation Isotrope (siehe hier) hatte weniger die Aufgabe, aktiv in das Geschehen auf See einzugreifen, was weiterhin Aufgabe der zivilen Border Force sowie im Fall von Havarien der Küstenwachen und Rettungsdienste blieb. Ziel der Operation war es vielmehr, zivile und militärische Ressourcen effektiver zu bündeln, die Migration ganzheitlich zu überwachen und damit eine stabile Grundlage für weitergehende Maßnahmen zu schaffen. Die britische Regierung hielt währenddessen an ihrer widersprüchlichen Linie fest, die Boote durch die Zerschlagung der Schleuserstrukturen und das Austrocknen des dahinter stehenden Geschäftsmodells stoppen zu wollen, ohne jedoch legale Alternativen für den Grenzübertritt zu schaffen. Gleichzeitig verschärfte sie den innenpolitischen Part ihrer grenzpolitischen Agenda: Channel migrants sollen kategorisch aus regulären Asylverfahren ausgeschlossen werden, ihre Zeit künftig in lagerartigen Einrichtungen verbringen und rasch in ihr Herkunftsland oder einen Drittstaat abgeschoben werden. Anfang Januar 2023 kündigte Premierminister Sunak entsprechende Gesetzesinitiativen an, deren Details bislang nicht bekannt sind. Das britische Refugee Council wies jüngst darauf hin, dass eine solche Agenda auf absehbare Zeit kaum umsetzbar ist und darauf hinausläuft, dass 98,8 % der Bootspassagier_innen „stuck in a permanent limbo“.
In dieser Situation ist die Gründung des Small Boats Operational Command (SBOC) auch, aber nicht ausschließlich, ein symbolpolitischer Akt, mit dem die Regierung Sunak angesichts massiver politischer und sozialer Instabilität ihre Handlungsmacht demonstriert. Als Institution hingegen ist das SBOC erst ein Torso.
Zwar soll die neue Behörde nicht weniger als 830 Bedienstete umfassen. Rund hundert sollen in den Londoner Hauptquartieren von Border Force und National Crime Agency (NCA) arbeiten, die übrigen, so berichtete der Evening Standard im Dezember, „will be frontline staff, based mostly in Dover but also in Manston in Kent.“ Allerdings müssen 730 der 830 Bediensteten erst noch rekrutiert und eingestellt werden, was nach Ansicht britischer Medien bis zu einem Jahr dauern wird.
Gemessen an ihrer künftigen personellen und damit auch finanziellen Dimension, aber auch an ihrem hohen Symbolwert für die rechtskonservative Regierung, wirkt das Aufgabenprofil der Behörde überraschend vertraut. In einer Presseerklärung des Innenministeriums zum Start des SBOC am 31. Januar 2023 heißt es: „The newly created Small Boats Operational Command […] brings together the government’s response to small boats under a single integrated structure, enhancing the work conducted alongside the military last year.“ Neben dem zusätzlichen Personal würden die technischen Infrastrukturen zur Überwachung ausgebaut: „New air and maritime capabilities including new drones, boats, land-based radar and cameras, will also be introduced under SBOC. This will aid our ability to track vessels on the water, identify pilots and help to bring those responsible to justice.“ Das neue Kommado werde die bilaterale Zusammenarbeit mit Frankreich beaufsichtigen, um die Überfahrten zu unterbrechen und Rettungseinsätze zu koordinieren, sowie die Verwaltungsabläufe nach der Ankunft im britischen Hoheitsgebiet effektiv abwickeln.
Diese Aspekte sind nicht neu (man denke etwa an die jährlichen britisch-französischen Vereinbarungen, siehe zuletzt hier), konnten oft aber nur fragementarisch umgesetzt wurden und scheiterten teils an der Realität der Migration, teils an rechtstaatlichen Hindernissen, mangelhaften Verwaltungsstrukturen oder an Widerständen zivilgesellschaftlicher Akteure oder der gewerkschaftlichen Vertretung des eigenen Personals. Es ist gewiss kein Zufall, dass das Innenministerium die Identifizierung der „pilots“ in seiner Erklärung zum Start des SBOC ausdrücklich erwähnt, denn dieser Fall ist exemplarisch: Für die Kriminalisierung von Geflüchteten, denen das Steuern eines Schlauchboots zur Last gelegt wurde, besteht zwar seit 2022 eine gesetzliche Grundlage, doch gelang es der Regierung zum Glück nicht, dies in größerem Umfang durchzusetzen und auf diese Weise einen auf See potenziell lebensbedrohlichen Abschreckungseffekt zu kreieren.
Einen Einblick in das Aufgabensprektrum des SBOC vermittelt die am 5. Februar 2023 endende Ausschreibung der Direktorstelle. Der Text beschreibt erwartungsgemäß ein breites Spektrum von Führungsausgaben einschließlich der Zusammenarbeit mit Ministerien, Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden. Zugrunde gelegt wird ein Verständnis von Grenze, das den Raum beiderseits des Ärmelkanals umfasst und die Bekämpfung der Bootspassagen weit in das Vorfeld ausdehnt. Migration erscheint in erster Linie als eine Form von Kriminalität, deren Bekämpfung alle Inhaber staatlicher Gewalt vereinen müsse. Im Anforderungsprofil für den künftigen Direktor steht an erster Stelle: „experience of delivering through a large and geographically dispersed workforce, which spans several disciplines and specialisms (e.g. military, law enforcement, maritime, and logistics professionals), in complex and challenging environments, where there are competing and challenging priorities and risks.“ Es geht um das Agieren „across the whole route to dismantle organised crime networks“ sowie im Rahmen von „French and near-border cooperation“. Die künftige Direktion soll eine Schlüsselrolle bei der Zusammenarbeit mit „international partners“ und beim Aufbau von „operational capacity in key locations“ wahrnehmen. „This includes leading cooperation, engagement, and joint operational working with near border partners (including Belgium and the Netherlands), working closely with relevant Home Office policy areas.“ Diese Aufgabenbeschreibung schließt die verschiedenen Ebenen ein, auf denen Großbritannien momentan eine der restriktivsten Grenzpolitiken Europas anstrebt.
Trotz seines zivilen Charakters stellt das SBOC keine Abkehr von einer militarisierten Grenzpolitik dar, wie das Ende der Operation Isotrope vielleicht vermuten lassen könnte. Vielmehr lassen sich Operation Isotrope und SBOC als hybride Institutionen verstehen, in denen zivile und militärische Behörden teils unter Leitung des einen, teils des anderen Ressorts zusammenarbeiten. In der oben zitierten Presseerklärung erinnert das Innenministerium daran, dass die Operation Isotrope von vornherein eine temporäre Maßnahme gewesen sei und der militärische Anteil an der Bekämpfung der Bootspassagen keineswegs ende: „SBOC will continue to work closely with the military during a handover period to respond to the challenge of Channel crossings.“
Diese hybride Struktur spiegelt sich auch in der Biographie von Duncan Capps, der das SBOC als Interimsdirektor bis auf weiteres leiten wird. Capps ist Generalmajor a.D. der britischen Armee und war Kommandeur verschiedener Einheiten, die jeweils für logistische Aufgaben zuständig waren. Danach war er von 2020 bis August 2022 Kommandeur der Royal Military Academy Sandhurst, einer Ausbildungsstätte für Offiziere. Nach seinem Ausscheiden aus der Armee übernahm er im Dezember 2022 das Amt des Clandestine Channel Threat Commander, nachdem der im August 2020 von der damaligen Innenministerin Priti Patel ernannte erste Inhaber dieses Amts, Daniel O’Mahonney, zurückgetreten war. Der Small Boats Operational Commander ist damit also letztlich nichts anderes als der Clandestine Channel Threat Commander mit größeren Ressourcen und auf einem höheren Level hybrider Sekuritisierung der Grenze. Nur: Auch der Clandestine Channel Threat Commander war mit einer ähnliche Agenda eingesetzt worden wie der Small Boats Operational Commander heute, und bekanntlich hat sich die Zahl der Bootspassagen seither nicht verringert, sondern vervielfacht. Es ist absehbar, dass es auch dem SMOC allein aus strukturellen Gründen kaum gelingen dürfte, diese Entwicklung im laufenden Jahr aufzuhalten. Wenn die diesjährige Saison der Bootspassagen mit dem Beginn der kalten Jahreszeit ihrem Ende entgegen gehen wird, wird das SBOC überhaupt erst mit vollem Personal beginnen können zu arbeiten.
Was das SBOC für die konservative Londoner Regierung vor allem leisten dürfte, ist die Institutionalisierung des einmal eingeschlagenen grenzpolitischen Pfades. Dabei scheint es, als solle eine Behörde auf Vorrat geschaffen werden, deren präzise Aufgaben sich aus den momentanen Gesetzesvorhaben der Regierung Sunak erst noch erschließen werden. Die Überwachung der Kanalregion, ihrer neuralgischen Orte und ihren Vorfeldes dürfte dann um die Organisation des Limbus ergänzt werden, in den die Bootspassagier_innen nach ihrer Ankunft in Großbritannien geraten.