Kategorien
Calais Channel crossings & UK

Verharren im Calais-Format

Eine Analyse der neuen britisch-franösischen Vereinbarung zur Bekämpfung der Bootspassagen

Die britische Innenministerin Suella Braverman und ihr französischer Amtskollege Gérald Darmanin unterzeichneten am 14. November 2022 in Paris eine gemeinsame Erklärung zur Bekämpfung der „illegalen Migration“. Die mit britischen Investitionen in Höhe von 72,2 Millionen Euro hinterlegte Vereinbarung umfasst eine Reihe von Maßnahmen, die sich hauptsächlich gegen die Bootspassagen im Ärmelkanal richten. Kritisch gelesen, regelt das Papier jedoch kaum mehr als den Fortbestand und die weitere Finanzierung bestehender Kooperationsformate. Es nimmt einige taktische Anpassungen vor und verstetigt eine 2021 begonnene Kooperation im sogenannten Calais-Format, womit die Einbeziehung Belgiens, der Niederlande und Deutschlands gemeint ist. Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären und menschenrechtlichen Lage der Exilierten fehlen gänzlich. Braverman und Darmanin verfestigen vielmehr ihre strukturellen Ursachen.

Tweet des französischen Innenministers zur Unterzeichnung der Vereinbarung am 14. November 2022 in Paris. (Quelle: Gérald Darmanin / Twitter)

Vorgeschichte

Seit 1986 bilden bilaterale Vereinbarungen zwischen Frankreich und Großbritannien das Rückgrat des Grenzregimes in seiner heutigen Form. Ausgehend von Regelungen für den Kanaltunnel, wurden ab den 1990er-Jahren mehrere zwischenstaatliche Verträge zur Kontrolle und Bekämpfung der undokumentierten Migration geschlossen. In den 2010er-Jahren kamen Vereinbarungen auf Ministerebene hinzu, die konkreter auf aktuelle Entwicklungen reagierten und mehrere grenzpolizeiliche Kooperationsformate zum Informationsaustausch, zur Lagebeurteilung und zur Unterstützung bei der Strafverfolgung etablierten. Außerdem wurde jeweils ein Budget festgelegt, mit dem Großbritannien Maßnahmen auf französischem Gebiet finanzierte. Im Jahr 2018 bestätigte der Vertrag von Sandhurst die Gültigkeit dieser Politik in der Post-Brexit-Ära. Dieser Vertrag ist die Grundlage der seither getroffenen Vereinbarungen.

Die aktuelle Vereinbarung ist die vierte, bei der es hauptsächlich um die Bekämpfung der Bootspassagen geht. Erstmals geschah dies mit dem Joint Action Plan vom 24. Januar 2019 – zu einem Zeitpunkt, als die Überfahrt von wenigen hundert Menschen in Großbritannien eine moral panic ausgelöst hatte. Großbritannien stellte 7 Millionen € zur Verfügung, allerdings bestand auf Basis des Sandhurst-Vertrags bereits ein Budget, das lediglich aufgestockt wurde. Am 28. November 2020 schlossen die Innenminister_innen beider Staaten eine zweite Vereinbarung mit einem Volumen von 31,4 Millionen Euro (siehe hier) und am 20. Juli 2021 eine dritte über 62,7 Millionen Euro für Maßnahmen in den Jahren 2021/22 (siehe hier).

Im Jahr 2021 richtete die Regierung Johnson außerdem mehrere Forderungen an Frankreich, die sehr viel weiter gingen und von Paris nicht akzeptiert wurden: Zum einen wollte Großbritannien eine Vereinbarung mit Frankreich über die Rücknahme abgeschobener Personen erreichen, nachdem es mit dem Brexit auch aus dem europäischen Dublin-System ausgeschieden war und eine britisch-EUropäische Nachfolgeregelung chancenlos erschien. Zweitens benötigte Großbritannien die Kooperation Frankreichs, um geplante Pushbacks an der Seegrenze durchführen zu können. Drittens warf Johnson Frankreich vor, die nordfranzösische Kanalküste nicht ausreichend zu überwachen, und verlangte britische Patrouillen im französischen Hoheitsgebiet.

Der politische Dissens eskalierte etwa zeitgleich mit der Havarie vom 24. November 2021, bei der mindestens 27 Menschen ertranken und weitere vermisst blieben. Im Windschatten dieser bislang tödlichsten Havarie lud Frankreich die britische Innenministerin Patel von einer Konferenz in Calais aus und verhandelte dort lediglich mit den Innenminister_innen Deutschlands, Belgiens und der Niederlande über die Bekämpfung von Schleusungsnetzwerken, denen die Hauptschuld zugeschrieben wurde. Diese Konferenz ist gemeint, wenn in der aktuellen Vereinbarung vom „Calais-Format“ gesprochen wird.

Da die Vereinbarungen jeweils nur einen begrenzten Zeitraum finanzieren, kommt der jetzige Schritt nicht überraschend. Auch die auf den ersten Blick imposante Investition von 72,2 Millionen Euro überrascht nicht. Sie geht kaum über den bisherigen Finanzrahmen hinaus, was sich durch die Inflation noch weiter relativiert, und dürfte vor allem in laufende Personal- und Ausstattungskosten der französischen Polizei und Gendarmerie fließen. Der finanzielle Spielraum für weitergehende Maßnahmen ist also eher gering. Dies deutet darauf hin, dass die britische Regierung einem Ausbau des Grenzregims auf bilateraler Ebene momentan nicht die höchste Priorität zumisst. Die abgelöste Regierung Johnson konzentrierte sich 2021/22 vielmehr auf spektakulär wirkende und populistisch kommunizierte Projekte im nationalen Rahmen. Hierzu gehörten die Verschärfung des britischen Einwanderungsrechts, Pushbacks auf See, der Einsatz des Militärs im Ärmelkanal und das Programm zur Deportation von Channel migrants nach Ruanda. Die Pushbacks kamen nie zustande und das Ruanda-Programm wurde durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestoppt. Sollte die britische Regierung tatsächlich geglaubt haben, auf nationaler Ebene einen game changer zu kreieren, so ist ihr dies misslungen.

Emanuel Macron und Liz Truss kündigten die nun unterzeichnete Vereinbarung am 6. Oktober 2022 am Rande des Prager Gipfels der Europäischen Politischen Gemeinschaft an. In ihrer Erklärung behandelten sie aber vor allem andere Themen wie die Zusammenarbeit bei der Energieversorgung und die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Aggressor. Das Thema Ärmelkanal folgte als letzter Punkt: „They further agreed to deepen cooperation on illegal migration within the bounds of international law, to tackle criminal groups trafficking people across Europe, ending in dangerous journeys across the Channel. Interior Ministers should conclude an ambitious package of measures this autumn. Leaders agreed to reinforce cooperation with near neighbours, including through an early meeting of the Calais group.“

Verhandelt und abgeschlossen wurde die Vereinbarung mithin im Kontext einer Krise des antimigrantischen Paradigmas: Während die als game changer vorgestellten nationalen Maßnahmen ins Leere laufen, überschritt die Zahl der erfolgreichen Bootspassagen seit Jahresbeginn am 12. November die Marke von 40.000 und markiert damit einen neuen Höchstwert. Großbritannien investiert also in ein Grenzregime, das bei aller Sekuritisierung noch nie so durchlässig war wie heute.

Neue strategische Ziele?

Die aktuelle Vereinbarung trägt den Titel UK-France joint statement: enhancing co-operation against illegal migration. Nach einer einleitenden Problemskizze werden drei strategische Ziele vorgestellt und mit griffigen Slagworten etikettiert: smart border, resilient border und deterrent border:

  1. Das Ziel smart border wird definiert als „stemming the expansion of illegal crossings and making the small boats route unviable by deploying technological and human resources specifically dedicated to surveillance, detection and interception of attempts to cross the border illegally“. Diese Formulierung fällt weit hinter die Aussagen der Vorgängervereinbarung von 2021 zurück, die auf eine ernsthafte Absicht zur Implementierung von Smart border-Technologien schließen ließen; stattdessen wirkt sie vage und deklaratorisch. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass das 2021 formulierte Ziel bislang nicht angegangen wurde oder sich als schwer realisierbar erwiesen hat.
  2. Das Ziel resilient border besteht in „dismantling organised crime and facilitation networks through genuine joint work including but not limited to the collection and use of intelligence from disembarked or intercepted migrants“. Diese Zielsetzung ist nicht neu, allerdings scheinen die Passagier_innen nun stärker als Quellen der Informationsgewinnung fokussiert zu werden.
  3. Mit deterrent border ist gemeint: „preventing and deterring illegal crossing attempts through joint work across a range of policy, operations and communication activities spanning as far upstream as possible, in connection with migrants’ countries of origin and transit“. Diese Zielsetzung erweitert die Strategie, potenzielle Migrant_innen durch die Schaffung einer feindseligen Umgebung – Theresa May sprach seinerzeit von der Erzeugung einer hostile environment – von der Einreise nach Großbritannien abzuschrecken. Der permanente Druck auf die Exilierten in Nordfrankreich erfolgt vor diesem Hintergrund. Die Ausweitung dieser Abschreckung in den digitalen Raum und in die Herkunfts- und Transitländer durchzieht die Vereinbarungen der vergangenen Jahre. Großbritannien führte auf dieser Basis bereits mehrere Internet- und Social Media-Kampagnen durch, die sich an Menschen on the move richteten. Diese operierten teilweise mit Fakes und konkurrierten sowohl mit solidarischen Informationen über die Sicherheit auf See, als auch mit der Werbung kommerzieller Schleusungsstrukturen (siehe hier und hier).

Das von Macron und Truss angekündigte „ambitious package of measures“ ist in diesen Zielsetzungen nicht erkennbar. Sie schreiben vielmehr Etabliertes fort, und das Gleiche zeigt sich – mit einzelnen, aber interessanten, Ausnahmen – auch in den operativen Maßnahmen, die im zweiten Teil der Vereinbarung aufgelistet sind.

Die operativen Maßnahmen

Unter dem Titel A new integrated approach listet die Vereinbarung zwölf Einzelmaßnahmen auf. Die meisten von ihnen betreffen bestehende Kooperationsformen oder greifen bereits früher formulierte Absichten auf:

So sollen die französischen Patrouillen im Küstengebiet in den nächsten fünf Monaten um 40 % verstärkt werden; nach Schätzung der BBC entspricht dies einer Aufstockung des Personals von etwa 250 auf etwa 350 Personen. Die zum Informationsaustausch geschaffene Joint Intelligence Cell soll nach erfolgreicher Tätigkeit ausgebaut werden. Gemeinsame Analyseteams und der Austausch von Verbindungsbeamt_innen sollen die operative Zusammenarbeit Großbritanniens mit dem französischen Headquarter verbessern. Investitionen in „modernste Überwachungstechnologien“ sollen das Erkennen geplanter Bootspassagen beschleunigen. Welche Technologien angeschafft werden sollen, wird nicht konkretisiert.

Andere britische Gelder sollen in südfranzösische Aufnahmezentren für Bootspassagier_innen vom Mittelmeer fließen, um sie von einer Weiterfahrt an die Kanalküste abzuhalten und „ihnen stattdessen sichere Optionen zu bieten“. Menschen in „Rückführungszentren“ sollen zur freiwilligen Rückkehr bewegt werden, „sofern dies angemessen, sicher und legal ist“. Eine Taskforce soll sich auf den albanischen Anteil unter den Bootspassagieren konzentrieren, der in diesem Jahr stark zugenommen hat. Andere Punkte haben nichts mit den Bootspassagen zu tun, sondern beziehen sich einmal mehr auf die Ausstattung der Häfen mit Sicherheitstechnik, Videoüberwachung und Spürhunden.

Hinzu kommt die Entsendung britischer Beamt_innen nach Frankreich (und umgekehrt). Dies greift allerdings nur scheinbar die frühere Forderung Johnsons nach britischen Patrouillen auf französischem Gebiet auf, denn die Ausübung hoheitlicher Rechte bleibt ausgeklammert. Die Rede ist vielmehr von „reciprocal teams of embedded officers with the objective to, without prejudice to sovereignty, increase joint understanding of the threat through first-hand observations, strengthen migrant debriefing and increase information sharing on the threat“. In einer ersten Analyse weist der BBC-Korrespondent Dominic Casciani darauf hin, dass die britischen Beobachter_innen „keine operativen Befugnisse“ haben werden: „selbst wenn mehr Boote und Schmuggler abgefangen werden, können sie den Franzosen nicht vorschreiben, was sie mit einzelnen Migranten machen sollen, die die Überfahrt bekanntlich mehr als einmal versuchen werden.“

Ein Fokus des Maßnahmenpakets liegt erwartungsgemäß auf der Bekämpfung der Infrastrukturen kommerzieller Schleuser_innen, und zwar insbesondere auf dem Antransport der Boote und des Bootszubehörs. Dies weitet das Grenzregime räumlich auf die Nachbarstaaten Belgien, Niederlande und Deutschland aus, denn weil der Handel mit Booten und Zubehör in Nordfrankreich stark reglementiert wurde, werden diese häufig aus den genannten Ländern herangeholt. Vor diesem Hintergrund vereinbarten Frankreich und Großbritannien nun „a joint approach to working with near neighbours, to maximise our efforts to disrupt traffickers’ operations before they reach France, including a meeting in the coming weeks at ministerial level in the Calais format“. Das 2021 erstmals durchgeführte, aber vom britisch-französischen Eklat überschattete, Calais-Format wird nun also verstetigt. Dies ergänzt das Grenzregime um eine multilaterale Ebene von untergeordneter Bedeutung.

Ein vorläufiges Fazit

Die neue britisch-französische Vereinbarung ist von Dynamiken des Beharrens geprägt: Das Grenzregime bleibt, wie es ist, wird im Detail aber einigen aktuellen Entwicklungen angepasst. Die Vereinbarung bleibt durchgängig hinter den britischen Forderungen des Vorjahres zurück. Sie beinhaltet keine französische Flankierung der fragwürdigen Projekte, die Großbritannien als vermeintliche game changer auf nationaler Ebene vorangetrieben hat. Auch das multilaterale Calais-Format stellt keine wirkliche Zäsur dar, denn das Grenzregime ist weiterhin bilateral organisiert. Auch der nun verlängerte Einsatz eines Frontex-Flugzeuges seit 2021 (siehe hier) ändert dies nicht.

Ebensowenig schafften Braverman und Darmanin den von Großbritannien geforderten Rechtsrahmen für die Abschiebung von Bootspassagieren und anderen Geflüchteten nach Frankreich bzw. in die EU. Ihr Text erwähnt diese Frage nicht einmal. Allerdings bekräftigte der britische Immigration Minister später vor dem Unterhaus, daß seine Regierung nach wie vor ein Rückführungsabkommen (returns agreement) mit Frankreich anstrebe.

Letztlich wird die neue Vereinbarung die inhumane Situation der Exilierten in Nordfrankreich verfestigen und weiterhin einen lukrativen Markt für Schleusungsdienstleistungen konstituieren. Dies zeigt sich auch in dem, was fehlt: Beide Staaten verständigten sich nicht auf die Schaffung legaler Alternativen zu den small boats. Sie vereinbarten keine Schritte zur Verbesserung der humanitären und menschenrechtlichen Krise in Nordfrankreich. Und sie definierten keinen Rahmen für eine politische Neuaushandlung unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure, internationaler Organisationen oder der Betroffenen selbst. Calais bleibt das Synonym einer inhumanen Grenze, und die Grenzpolitik verharrt im Calais-Format.