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Dunkerque & Grande-Synthe

„Du verdienst nicht, was du durchleben musst“

Ein Interview mit No Border Medics über die Arbeit in den Camps bei Dunkerque

No Border Medics in Loon-Plage, Winter 2022/23. (Foto: Enzo Leclerq / Instagram @enzorhino)

Seit Herbst 2022 ist No Border Medics in Nordfrankreich präsent. Die neu gegründete NGO mit Sitz in Hamburg arbeitet vor allem in den Camps von Grande-Synthe, Loon-Plage und Mardyck bei Dunkerque. Dabei stützt sie sich auf ein Kernteam mit Berufen im Gesundheitsbereich und auf internationale Volunteers. Wir sprachen Mitte Juni per WhatsApp mit der Koordinatorin für die Arbeit in Dunkerque, Hana Anane, über medizinisches Arbeiten inmitten des Grenzregimes.

Seit einigen Monaten ist eine neue Gruppe im nordfranzösischen Grenzraum aktiv: No Border Medics. Wer seid ihr?

Wir – ich als Krankenschwester, Martin ein pensionierter Arzt und Zahra eine Medizinstudentin – sind ursprünglich als ein Scouting-Team einer anderen Organisation hierhergekommen.

Wir sind nach Dunkerque gekommen, weil es den Hilferuf einer anderen NGO vor Ort gab, dass das Camp von Loon-Plage seit Monaten keine medizinische Versorgung hatte. Wir haben in den ersten zehn Tagen fast 900 Patient*innen behandelt und wurden mit dem medizinischen Bedarf vor Ort überrannt. Wir waren – mal wieder – schockiert, wie wenig der Staat bzw. staatliche Organisationen tun.

Meine damalige Organisation konnte kein neues Projekt stemmen und ich wollte die Menschen hier nicht ohne medizinische Versorgung hängen lassen.

Seitdem bin ich hier mit wechselnden Mediziner*innen und habe ein neues Projekt zuerst ganz ohne Namen aufgebaut, es ging alles auf Basis von privaten Spenden über mein Konto. Um es ,,offiziell„ zu machen, haben wir im Anschluss eine Organisation um das Projekt herum gegründet.

Im Vorstand von No Border Medics sind Kai Wittstock, ein Logistiker aus Hamburg, Martin Binder, ein pensionierter Arzt aus Reutlingen, und ich.

Wie lange seid ihr jetzt schon in der Gegend um Dunkerque und was hat sich in dieser Zeit verändert?

Wir sind am 19. September 2022 hier angekommen. Seitdem gab es zig evictions, darunter fünf große evictions. Bedeutet, der Ort, wo Menschen „leben“ und wir „arbeiten“, hat sich fünfmal komplett geändert, weil Polizei, CRS, Staat und Politik die Camps komplett zerstört haben.

Wir spüren den Effekt dieser 72,2 Millionen Euro, die Großbritannien an Frankreich bezahlt hat, um die „illegal small boats“ zu stoppen.

Als ich hier angekommen bin, waren die Gründe, die mir erzählt wurden, warum die Überfahrt nicht geklappt hat, meist: zu wenig Benzin, zu viele Menschen auf dem Boot, manchmal auch: Polizei am Strand. Jetzt höre ich von viel, viel mehr Polizeipräsenz an den Stränden. Von Polizei, die Boote aufschlitzt, anbrennt, und vor allem: viel Tränengas. Das gab es früher wohl auch schon, aber jetzt viel mehr.

Räumung des Camps bei Loon-Plage im Frühjahr 2023 (Foto: Geoff Motyer / Instagram @smallcog)

Wie wirkt sich das auf die Situation in den Camps aus?

Es führt zu mehr Spannungen – weil alle wie gefangen sind und nicht weiterkommen – und die Menschen bauen mehr und mehr ab, je länger sie hier sind, physisch und psychisch. Das beobachte ich bei vielen Leuten, die erst als strahlende Witzbolde ankommen und dann aber durch den ganzen Stress, die Angst, zu wenig Schlaf, Draußensein und -schlafen bei allen Wetterbedingungen und, und, und… total abbauen.

Wie entwickelt sich die Situation in den Camps aktuell und was erwartet ihr für die nächsten Monate?

Seitdem das Wetter besser geworden ist bzw. vor allem die starken Stürme aufgehört haben, ist das Camp sehr voll. Ich habe gar keine offiziellen Zahlen, aber ich schätze momentan leben hier zwischen 800 und 1000 Personen, seit einer Woche mit sehr viel Wechsel. Einen Tag haben wir 185 Patient*innen, am nächsten 65, weil alle aufs game gegangen sind. Aber innerhalb von ein bis zwei Tagen ist es wieder voll, weil einige es nicht geschafft haben und neue Personen angekommen sind. Deshalb erwarte ich steigende Patientenzahlen, aber mit ständigem Wechsel.

Was genau diagnostiziert ihr, wenn ihr in den Camps arbeitet?

Wir machen sehr viel Wundversorgung von kleinen Splittern bis zu tiefen Stich- und Schusswunden. Auch kleine Wunden können hier generell ziemlich schlimm werden wegen der unhygienischen Lebensumstände.

Viel Scabies, also Krätze, viele Erkältungen und „einfache kleine Probleme“ wie Kopfschmerzen und schmerzende Beine von dem vielen Laufen. Offene Füße von zu kleinen oder keinen Schuhen oder langem Laufen in durchnässten Schuhen und Kleidung am Strand. Dann manchmal, aber seltener, chronische Erkrankungen oder echte Notfälle wie heute, als jemand (wahrscheinlich) einen Herzinfarkt hatte. Dann gibt es viele Kinder, die natürlich immer wieder krank werden. Sehr viele Menschen mit schlechtem Zahnstatus.

Und zuletzt haben viele Menschen – eigentlich alle, manche lassen es mehr raus als andere oder es bricht aus ihnen raus – psychische Probleme wie PTSD, Psychosen, Depressionen, was aber auch alles zusammenhängt.

Besteht eigentlich Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung oder bleiben die Leute sich selbst überlassen?

Es gibt La Pass, eine „freie Klinik“, die an das normale Krankenhaus von Dunkerque angegliedert ist. Der kostenlose Zugang ohne Papiere ist dort kein Problem, allerdings haben sie nur Montag, Mittwoch und Freitag nachmittags dreieinhalb Stunden offen und natürlich ist sie an allen Feiertagen geschlossen.

Sonst in Notfällen kann ich den Krankenwagen rufen. Der braucht aber sehr lange, weil er nur in Polizeibegleitung kommt. Ich musste bisher immer zwischen 45 Minuten und anderthalb Stunden auf die Ambulanz warten. So lange warten zu müssen, könnte in manchen Fällen tödlich enden.

Viele Leute haben aber Angst, „in die Öffentlichkeit“ wie Krankenhaus, Einkaufsläden etc. zu gehen, weil überall die Polizei lauern könnte. Und weil sie sich auch um vieles andere kümmern müssen. Sie müssen ja jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit anstehen, um Essen, Kleidung, phone charging etc. zu bekommen. Und dann stellen die meisten Menschen ihre Gesundheit hinten an. Deshalb finde ich es wichtig, dass unsere medizinische Versorgung den Menschen einfach zugänglich ist: direkt im Camp, neben dem charging, der Essensausgabe und das vertrauenswürdig und zuverlässig, jeden Tag. Aber natürlich muss ich manche Menschen ans Krankenhaus weiterleiten, weil wir nicht alles im Camp machen können.

No Border Medics im Camp bei Loon-Plage. (Fotos: Hana Anane)

Vielleicht kannst du zum Schluss einmal beschreiben, wie genau ihr on the ground arbeitet.

An „normalen“ Tagen kommen wir gegen 10:45 Uhr im Camp an. Wir bauen unseren großen Pavillon auf, ich parke das Auto rückwärts mit dem Kofferraum nach innen und wir stellen einen Campingtisch auf, auf dem wir unser Wundversorgungsmaterial in Kisten haben. Im Kofferraum gibt es eine Kiste mit Medikamenten, eine mit Diagnostikmaterial und ein Regal mit Hygieneartikeln wie Zahnbürsten, Zahnpasta, Taschentüchern etc. In der Mitte des Zeltes stelle ich Campingstühle als Behandlungsplätze auf. Wie viele, variiert je nachdem, wie viele medics an diesem Tag arbeiten.

Behandlungsplatz im Camp bei Loon-Plage. (Foto: Hana Anane)

Dann können alle Patient*innen einfach reinkommen, sich hinsetzen, werden untersucht und versorgt, je nachdem, welches Problem sie haben. Wenn wir Privatsphäre brauchen, gehen wir in unseren Van. Den haben wir jetzt erst neu und fahren damit momentan nur unsere großen Materialien hin und her. Aber wenn wir genug Zeit und Geld haben, bauen wir ihn als „Behandlungsraum“ aus. Wir werden dann beides haben: das Zelt mit Behandlungsplätzen und den Van für mehr Privatsphäre, aber er ist auch gut für den Winter, weil er eine Standheizung hat.

Nach dem Aufbau arbeiten wir also bis „alle versorgt sind“. Bedeutet, wir bleiben jeden Tag bis mindestens 16 Uhr, aber an manchen Tagen auch bis 19 Uhr oder länger.

Wenn jemand zu mir gerannt kommt und sagt, da ist ein Notfall irgendwo im jungle, schnapp ich mir einen doctor und den emergency backpack und renne dorthin. Das gleiche gilt auch in Nicht-Notfällen, wenn jemand kommt und sagt, mein Kind, meine Frau, mein Freund ist da hinten im jungle und kann nicht kommen, weil er oder sie krank ist oder nicht laufen kann. Das haben wir oft, nachdem Leute vor der Polizei weggerannt und umgeknickt sind und dann meist angebrochene Füße oder Bänderrisse etc. haben.

Am Abend fahren wir zu unserem Medical-Container, füllen alle Materialien auf, putzen und sterilisieren das Material, damit alles bereit ist für den nächsten Tag.

Und wenn Räumungen stattfinden?

An eviction-Tagen oder vor allem nach den großen, endgültigen evictions machen wir meistens outreach mit einem Rucksack für Medikamente und einem für Wundversorgung. Dann fahren oder laufen wir zwischen den kleineren Camps hin und her und bieten Hilfe an, Hilfe aller Art.

Zerstörung von Zelten und persönlichem Besitz während einer Räumung. (Foto: Geoff Motyer / Instagram @smallcog)

Die Menschen sind in dieser Situation mit vielen anderen Sachen beschäftigt, wie: Ich muss ein neues Zelt, Schlafsachen und alles andere irgendwie bekommen und alles wiederaufbauen. Manchmal helfen wir ihnen dabei, machen psychological first aid, reden mit Menschen oder eher: hören ihnen zu, was die Polizei ihnen heute alles Schlimmes angetan hat, und unterstützen sie, wo wir können. Zum Beispiel helfen wir ihnen beim Zelte-Aufbauen oder geben Informationen, wo sie was wann bekommen können. Wir versorgen sie auch medizinisch. Aber meistens geht es eher darum zu zeigen, dass wir für sie da sind und auch zu zeigen, dass wir wütend sind auf dieses System und wütend darauf, dass die Menschen – zusätzlich zu dem, was sie alles schon durchgemacht haben – das heute miterleben mussten.

Position gegen die Grenzpolitik zu beziehen, ist für euch also ein untrennbarer Bestandteil von care.

Wir zeigen, dass wir „caren“, weil es sich für sie so anfühlt, als ob niemand sie irgendwo haben will und sie nichts wert sind. Aber wir zeigen, dass das nicht stimmt. Quasi: „Du bist etwas wert, ich als europäische Person finde es schön, dich hier zu haben und kennengelernt zu haben! Du bist ein wunderbarer Mensch und du verdienst nicht, was du heute, die letzten Wochen, Monate, Jahre durchleben musstest. Du bist eine wertvolle Person und wir sind da, wenn du etwas brauchst!“

Das sage ich dann natürlich nicht so, aber das ist mein Ethos, immer, und ganz besonders an schwierigen Tagen.