Die Zahl der Bootspassagier_innen auf der Kanalroute erreichte am 29. August die medial viel beachtete Marke von 20.000. Dies sind etwas weniger Personen als im Vorjahr, als dieselbe Zahl bereits am 14. August erreicht wurde (siehe hier). Der jährliche Anstieg der Bootspassagen, wie wir ihn seit 2018 gesehen haben, setzt sich in diesem Jahr also nicht fort. Vielmehr liegen die Zahlen seit einigen Monaten etwas unter denen von 2022, aber deutlich über denen von 2021. Daher dürfte 2023 das Jahr mit den zweitmeisten Bootspassagen seit der Etablierung der Kanalroute (2018) werden. Von ihrem populistischen Ziel, die small boats zu stoppen, bleibt die britische Regierung also weit entfernt. Gleichzeitig werden neue Risiken auf See sichtbar.
Nach einer längeren Schlechtwetterperiode mit schweren Stürmen, in der vom 26. Juli bis 3. August keine Boote übersetzten, überstieg die Zahl der diesjährigen Passagen am 5. August die Marke von 15.000 Personen. Wie immer nach ungünstiger Witterung, erfolgten danach besonders viele Passagen, darunter die Überfahrt von 755 Menschen in 14 Booten am 10. August.
Im weiteren Monatsverlauf setzten fast in jeder Nacht Boote über. Meist waren es zwischen 100 und 350 Personen auf zwei bis sechs Booten. Intensive Tage waren der 12. August (509 Personen, zehn Boote), 16 August (444 Personen, acht Boote) und 21. August (661 Personen, fünfzehn Boote).
Mit der Ankunft von 300 Exilierten stieg die Zahl am 29. August auf 20.101 Personen seit Jahresbeginn an. Insgesamt erreichten also rund 5.000 Exilierte im August britisches Hoheitsgebiet.
Der Monat war überschattet von der Havarie, bei der am 12. August sechs afghanische Männer den Tod fanden (siehe hier und hier). Sie ist bislang der einzige dokumentierte Todesfall auf See in diesem Jahr. Neben den latenten Risiken auf See stellen die überhöhte Personenzahl (häufig 60 bis 70 Personen pro Boot), die instabile Bauart und unzureichende Motorisierung der Boote sowie teils fehlende Schwimmwesten lebensgefährliche Risiken dar, die im Verlauf des Herbstes witterungsbedingt zunehmen werden.
Weiterhin mussten mehrmals Menschen aus Seenot gerettet werden. So berichtete die Zeitung La voix du Nord, dass am 9. August etwa 60 Exilierte bei Calais überhastet in See stachen, weil die Polizei sie bemerkt hatte. Dabei kam es zu einem Motorproblem, sodass die Passagier_innen zum Strand zurückkehrten und sechs Kinder und Jugendliche Unterkühlungen erlitten. Am 19. August führten französische und britische Rettungskräfte mehrere Einsätze auf hoher See durch, nachdem sich die Witterungsbedingungen während der Nacht verschlechtert hatten. Zwei weitere Boote mussten am 21. August im französischen Hoheitsgebiet geborgen werden. Am 24. August versuchten Exilierte sogar bei einem heranziehenden Sturm und offenkundig gefährlicher See die Überfahrt.
Von einem weiteren Vorfall berichtete der BBC-Reporter Simon Jones am 25. August: „Gestern Morgen ließen die Insassen eines Bootes, das zu viele Menschen an Bord hatte, zwei von ihnen auf einer Seeboje zurück. Das Boot setzte dann seine Fahrt in Richtung britische Gewässer fort. Die beiden wurden gerettet.“
Insgesamt liegt die Zahl der Überfahrten in den vergangenen Monaten bis zu 20 % unter dem Vorjahreszeitraum. In der Lesart der britischen Regierung ist dies ein Erfolg der enormen Investitionen in die Überwachung der französischen Küste und in die Bekämpfung des Schleuserwesens, vor allem aber der extrem restriktiven Gesetzgebung der vergangenen anderthalb Jahre.
Allerdings lassen sich die Zahlen ebensogut auch als Stabilisierung des Marktes für kommerzielle Schleusungen verstehen, der sich zugleich an die veränderten Bedingungen an der französischen Küste anpasst. Neben räumlichen Verlagerungen der Ablegestellen belegt beispielsweise der Einsatz sogenannter Taxiboote (siehe hier) die Fähigkeit, sich an veränderte Situationen anzupassen. Die Infrastruktur für den Bootspassagen ist mit Sicherheit weiter intakt und profitabel, wie sich anhand der regionalen französischen Medien, aber auch on the ground, leicht feststellen lässt.
Hinzu kommt, dass die Gesamtzahl der illegalisierten Einreisen nach Großbritannien – also auch Einreisen mit anderen Verkehrsmitteln – zunimmt. Nach einer Statistik des britischen Innenministeriums wurden von Juli 2022 bis Juni 2023 insgesamt 52.530 irreguläre Einreisen (davon 85 % per Schlauchbooten) erfasst. Die Gesamtzahl dieser Einreisen stieg gegenüber dem Vergleichszeitraum 2021/22 um 17 %. Auch wenn sich die Zahlen auf unterschiedliche Zeiträume beziehen, so deuten sie doch darauf hin, dass dem leichten Rückgang der Bootspassagen eine Zunahme ungefähr in gleicher Höhe bei anderen Verkehrsmitteln gegenübersteht. Diese alternativen Verkehrsmittel sind in erster Linie Lastwagen. Sich auf ihnen zu verstecken, ist nicht weniger gefährlich als die Bootspassage.