Teil 1: Calais Group
Das britische Grenzregime basiert auf bi- und multilateralen Abkommen mit Frankreich und weiteren Anrainerstaaten von Ärmelkanal und Nordsee. Hinzu kommen geografisch entfernte Staaten, denen bestimmte Funktionen bei der Vorfeldbekämpfung der Migration (Türkei) oder der Aufnahme abgewiesener Migrant_innen (Ruanda) zufallen sollen. Mit der EU besteht bislang keine migrationspolitische Rahmenvereinbarung, was aber nicht bedeutet, dass europäische Grenz-, Polizei- und Justizbehörden nicht auf anderer Ebene eingebunden wären. Auch Deutschland ist Teil dieser Strukturen. Aber worin genau besteht der deutsche Anteil am britischen Grenregime? Wir möchten dieser Frage in einer lockeren Folge von Beiträgen nachgehen. Am Anfang steht die Calais Group, ein 2021 geschaffener Rahmen für bereits bestehende und wohl auch für künftige Vorhaben.
Ein informelles Forum
Am 28. November 2021 sollten in Calais die Innen- bzw. Migrationsminister_innen Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands, Belgiens und der Niederlande zusammentreffen, um über die Eindämmung der Migration auf der Kanalroute zu beraten. Das Treffen wurde als Reaktion auf die bis heute tödlichste Havarie eines Schlauchboots im Ärmelkanal angekündigt, bei der vier Tage zuvor 31 Menschen ertanken. Nur wenige Tage nach dem Termin wurden Hinweise auf eklatante Missstände bei der Seenotrettung publik, die letztlich zum Tod einer so grossen Zahl von Menschen geführt hatten.
Zugleich fiel das Treffen in eine Phase schwerer migrationspolitischer Differenzen der Regierungen Frankreichs und Großbritanniens. Diese eskalierten nach der Havarie derart, dass Großbritannien ausgeladen wurde. In Calais trafen sich also lediglich Frankreich, Deutschland, Belgien und die Niederlande sowie der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz (siehe hier). Ungeachtet des Fehlens Großbritanniens wird diese neue Form der Zusammenarbeit seither als Calais-Format bzw. Calais Group bezeichnet.
Die Calais Group ist die erste Struktur der vorgelagerten britischen Migrationsabwehr, in die Deutschland auf Regierungsebene eingebunden ist. Belgien hingegen ist bereits lange durch zwischenstaatliche Abkommen einbezogen, was in geringem Maße auch für die Niederlande gilt.
Die Calais Group ändert hieran nicht allzu viel. Anders als der britisch-französische Kern des Grenzregimes, der auf zwischenstaatlichen Verträgen basiert, gehen die fünf teilnehmenden Länder kein Vertragsverhältnis miteinander ein. Ebensowenig werden konkrete Vorhaben beschlossen und mit einem Finanzvolumen unterlegt, wie es zwischen Großbritannien und Frankreich regelmäßig geschieht.
Entsprechend definierte die Bundesregierung die Calais Group in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Clara Bünger am 2. August 2023: „Als Treffen im ‚Calais-Format‘ werden informelle Zusammenkünfte von Anrainerstaaten des Ärmelkanals (Belgien, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Niederlande) insbesondere zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität bezeichnet.“ Zum deutschen Anteil heißt es weiter: „Auch Deutschland nimmt – trotz nur mittelbarer Betroffenheit – an Treffen der Calais-Gruppe teil, um gemeinsame Lösungen zur Bekämpfung der Schleusungskriminalität über den Ärmelkanal zu unterstützen.“ (BT-Drucksache 20/7821)
Treffen der Calais Group finden inzwischen einmal jährlich auf ministerialer Ebene statt. Nach dem misslungenen Auftakt in Calais tagte das Forum zum zweiten Mal am 8. Dezember 2022 in Brüssel, und zwar auf Einladung der Niederlande. Erstmals waren alle fünf Staaten, also auch Großbritannien, durch ihre Innen- bzw. Migrationsminister_innen vertreten. Darüber hinaus nahmen Frontex und Europol teil. Am 2. Juni 2023 folgte ein Treffen hoher Beamter in London, das nach Auskunft der Bundesregierung „der Nachbereitung“ diente. Ein drittes Treffen auf Ebene der Minister_innen dürfte nach dem bisherigen Turnus im Spätherbst 2023 stattfinden.
Was ist die Agenda der Calais Group?
Angaben zur Agenda dieser Zusammenkünfte finden sich in einer gemeinsamen Erklärung zum zweiten Treffen am 8. Dezember 2022 in Brüssel. Problematisch ist, dass die Erklärung vage gehalten ist und weitere Quellen fehlen.
Dem Treffen vorausgegangen war eine französisch-britische Vereinbarung vom 14. November 2022, in der beide Staaten – zum wiederholten Mal – ihre gemeinsamen Vorhaben zur Migrationsbekämpfung benannten und deren Finanzierung regelten. Das Papier erwähnte die Calais Group als Ergänzung der viel stärker entwickelten britisch-französischen Zusammenarbeit. In diesem Sinne kündigten beide Staaten ein Konzept für die Zusammenabreit mit ihren „nahen Nachbarn“ an, „um die Operationen der Schleuser zu unterbinden, bevor sie Frankreich erreichen“. Ausdrücklich verwiesen sie auf das bevorstehende Treffen „im Calais-Format“ (siehe hier).
Die Calais Group lässt sich also als ein Forum verstehen, auf dem eine Vorverlagerung der Migrationsabwehr auf das Gebiet Belgiens, der Niederlande und Deutschlands besprochen und vertieft werden kann. Die teilnehmenden Staaten und EU-Institutionen reagieren damit, so ihr Anspruch, auf zwei Entwicklungen, die in den Vorjahren sichtbar geworden waren:
Zum einen hatten Strafverfahren gezeigt, dass ein Teil der Schlauchboote und des maritimen Equipments in Deutschland zwischengelagert und von dort über die Benelux-Staaten nach Nordfrankreich transportiert wird. Allerdings richten sich die meisten Strafverfahren, über die in der nordfranzösischen Lokalpresse regelmäßig berichtet wird, lediglich gegen Personen, die in untergeordneter Stellung, beispielsweise als Fahrer, an Schleusungen mitwirken. Die in der politischen Rhetorik gern verbreiteten Erfolgsmeldungen über Dutzende zerschlagene Schleuserorganisation oder Hunderte angeklagter Personen beziehen sich zu einem Großteil auf solche untergeordneten Tätigkeiten, teils sogar auf bloßen Gelegenheitsschmuggel.
Zum anderen – und davon unabhängig – sammeln in den nordfranzösischen Camps seit Jahren Geflüchtete, die lange Zeit in Deutschland oder einem anderen EU-Land gelebt haben. Die Weiterreise nach Großbritannien – in der Begrifflichkeit der Calais-Group: ihre Sekundärmigration – ist für viele der letzte Ausweg aus einer tatsächlichen oder empfundenen Aussichtslosigkeit im deutschen Asylsystem oder angesichts einer möglichen Dublin-Abschiebung.
Im Mittelpunkt des zweiten Treffens der Calais Group stand daher die Erörterung „möglicher struktureller und operativer Maßnahmen“ hinsichtlich dieser Phänomene, aber auch hinsichtlich der Migrationsbekämpfung jenseits der Außengrenzen der EU:
- „Sekundärbewegungen durch Europa und über den Ärmelkanal sowie Bekämpfung des Migrantenschmuggels“,
- „Migrationsströme nach Europa und Kooperation mit Drittländern“.
Während sich Punkt 1 auf das Gebiet der teilnehmenden Staaten und EU-Behörden konzentriert, zielt Punkt 2 auf die Herkunfts- und Transitländer der Exilierten und zugleich auf die Produktions- und Transitländer der Boote. Zuweilen erweckt die Erklärung den Eindruck, dass kaum mehr zwischen den Routen der Menschen und Boote unterschieden wird. Beides wird vielmehr als Teil einer zu bekämpfenden Infrastruktur krimineller Akteure begriffen.
Zielsetzungen im Gebiet der teilnehmenden Akteure
Die gemeinsame Erklärung der Calais Group benennt mehrere konkrete Bereiche der Zusammenarbeit von Grenz-, Polizei- und Strafverfolgungsbehörden. Oft bleibt der Text vage und erweckt eher den Eindruck einer gemeinsamen Sondierung des Terrains, ohne dass verbindliche Verpflichtungen eingegangen oder neue Projekte auf den Weg gebracht würden.
So wurden die teilnehmenden Minister_innen über die Operation Opal Coast informiert. Der Begriff bezeichnet den Ende 2021 begonnenen Einsatz von Frontex an der französischen Kanalküste, die auch als Côte d’Opale (Opalküste) bezeichnet wird.
Im Vordergrund stand offenbar jedoch ein anderer Maßnahmentyp: „Sie [die Minister_innen] nahmen mit Genugtuung die bemerkenswerte Arbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis, die mit Unterstützung von Europol und Eurojust gezielt gegen hochrangige kriminelle Ziele unter den Schleusern vorgehen; dies führte unter anderem zu koordinierten Operationen wie der Operational Task Force Dune und zur Verhaftung von Schleusern sowie zur Beschlagnahmung von Material, finanziellen Mitteln und verschiedenen Waffen.“ Diese Aussage bezieht sich auf eine Großrazzia am 5. Juli 2022 in allen fünf teilnehmenden Ländern, deren Schwerpunkt im Niedersachsen lag und die sich gegen eine im Raum Dunkerque aktive irakisch-kurdische Organisation richtete. Die Razzia wurde damals als wichtiger Schlag gegen internationale Schleusungsstrukturen bezeichnet, was ihre Bedeutung vermutlich stark überzeichnete. Wir werden uns in einem der späteren Beitrag ausführlich mit dieser Operation beschäftigen. Für das Verständnis der Calais Group wichtig ist, dass sie offenbar als Erfolgsmodell angesehen wird.
Hier wird deutlich, dass die Calais Group in erster Linie bestehende Strukturen polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit aufgreift. So lautet eine Schlüsselpassage der gemeinsame Erklärung:
„Sie kamen überein, unter Nutzung bestehender Strukturen und Vereinbarungen ihre Zusammenarbeit weiter zu verstärken, um die Lieferketten, die irreguläre Migration und Migrantenschmuggel begünstigen, auch im Vorfeld, ins Visier zu nehmen, wobei der Fokus auf die Sammlung von Erkenntnissen und Unterstützung möglicher Lösungen liegt. Sie kamen überein, die Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung und dem Grenzmanagement in Grenzgebieten zu verstärken und die justizielle Zusammenarbeit zu intensivieren. Sie verpflichteten sich zu einem verstärkten Austausch von Informationen sowie taktischen und strategischen Erkenntnissen (intelligence), der es ihren Einsatzteams ermöglicht, rasch auf Entwicklungen on the ground zu reagieren und kriminelle Netzwerke besser zu identifizieren.“
Dies ist ungefähr die Logik, nach der auch die britisch-französische Zusammenarbeit im engeren Grenzgebiet funktioniert. Vor diesem Hintergrund würdigte die Calais Group den Mehrwert der in Calais ansässigen Joint Intelligence Cell (Unité de renseignement opérationelle). Diese Einrichtung resultiert aus der langjährigen britisch-französischen Kooperation und spielt auch in der eingangs erwähnten britisch-französischen Vereinbarung vom 14. November 2021 eine wesentliche Rolle.
Die Agenda der Calais Group läuft offenbar also darauf hinaus, Schlüsselelemente der britisch-französischen Grenzüberwachung auf eine größere Anzahl von Staaten auszuweiten und hierfür einen politischen Rahmen zu schaffen. Deutlich erkennbar ist der Wunsch, diesen Rahmen auch als Ersatz für das bislang fehlende migrationspolitische Vertragswerk zwischen Großbritannien und der EU zu nutzen. So sprach sich die Calasis Group dafür aus, „die europaweiten Instrumente wie die Europäische Multidisziplinäre Plattform zur Bekämpfung krimineller Bedrohungen (EMPACT) und die Agenturen Europol, Eurojust und Frontex im Rahmen ihres jeweiligen Mandats in vollem Umfang zu nutzen“. Auch plädierten die Teilnehmer_innen für rasche Verhandlungen über eine „Arbeitsvereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und Frontex“. Am 17. Mai 2023 wurden Verhandlungen über einen solchen Vertrag durch den britischen Premierminister Rishi Sunak und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekannt gegeben (siehe hier).
Zielsetzungen im Außenraum: Migrationsrouten und Lieferketten
Der zweite Themenkreis der gemeinsamen Erklärung zielt auf eine Vorverlagerung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit über die teilnehmenden Staaten und auch über die EU hinaus, und zwar entlang der Migrationsrouten und der Lieferketten für Boote und nautisches Material. Genannt werden die „Regionen der Seidenstraße und des westlichen Balkan“; die dortigen Staaten sollen zu einer „Verringerung der irregulären Einreise und Verbesserung der effektiven Rückführungen“ bewegt werden.
Zugleich strebt die Calais Group ein „koordiniertes und ergebnisorientiertes Engagement“ mit Staaten an, „von denen die Aktivitäten der Schleuser ausgehen“. Um welche Staaten es hierbei geht, wird nicht benannt, aber nach Lage der Dinge wären dies beispielsweise der Irak oder die Türkei.
Nach Ansicht der Calais Group sollen „Kooperationsvereinbarungen zwischen Europol“ und entsptrechenden Staaten getroffen werden, damit „mehr Informationen hinsichtlich der gemeinsamen Bekämpfung des organisierten Menschenschmuggels und der Schleusungskriminalität ausgetauscht werden können“. Gleichzeitig sollen „Interpol-Kanäle […] gegenüber diesen Ländern“ genutzt werden, „wenn es um die Bekämpfung von Schleusern und deren Lieferketten geht“.
Was dies bedeuten kann, verdeutlicht eine britische Vereinbarung mit der Türkei von August 2023. Dabei wurde publik, dass Großbritannien in der Vergangenheit türkische Grenzschutzeinheiten unterstützt hatte, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden, und dass bereits jetzt Daten an türkische Polizeibehörden weitergeleitet werden, die aus Befragungen von Geflüchteten nach ihrer Ankunft in Großbritannien stammen (siehe hier).
Die Calais Group kündigte an, bis zu ihrem bevorstehenden dritten Treffen die „Möglichkeiten für eine vorgelagerte Zusammenarbeit“ weiter zu sondieren. Es ist zu befürchten, dass die britisch-türkische Vereinbarung vom August hierfür als Modell dient.
Ein Zwischenfazit
Deutschland ist seit 2021 also Teil eines informellen multilaterialen Forums auf Ministerebene, das sich vor allem auf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit konzentriert. Es fügt bestehende Kooperationen in einen gemeinsamen politischen Rahmen ein und erweitert die Spielräume für die Zusammenarbeit mit Frontex, Europol, Eurojust und EMPACT. Diese Zusammenarbeit verdichtete sich bislang in einer gemeinsamen Großrazzia gegen irakisch-kurdische Schleuser mit Schwerpunkt in Deutschland. Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Bünger hervorgeht, sind sowohl das Bundeskriminalamt als auch die Bundespolizei in diese Form der Zusammenarbeit involviert, hinzu kamen im Fall der Großrazzia die Länderpolizeien von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen und Baden-Württemberg.
In der Logik der Calais Group scheinen Migrationsrouten der Menschen und Lieferketten für Boote mit der Infrasturkur von Schleuserorganisationen in eins gesetzt zu sein. Die Identifikation von Staaten, die mutmaßlich Teil solcher Routen und Lieferketten sind, dient als Kompass für eine weitere Vorfeldbekämpfung der Migration. Der zwischen den Staaten der Calais Group und den teilnehmenden EU-Behörden etablierte Datenfluss wird in einer menschenrechtlich hoch problematischen Weise um autoritäre und instabile Staaten erweitert, die als Schlüsselakteure entlang der Migrationsrouten und Lieferketten angesehen werden.
Es bleibt abzuwarten, wie das diesjährige, dritte Treffen der Calais Group verlaufen wird. In einem unserer nächsten Beiträge werden wir zunächst den deutschen Anteil an der Operational Task Force Dune und an der Großrazzia vom Juli 2022 in den Blick nehmen.