Früher als erwartet, findet die britische Parlamentswahl bereits am 4. Juli 2024 statt. Mit der Ankündigung des Termins startet die heiße Phase das Wahlkampfs, in dem Migrationspolitik eine wesentliche Rolle spielen wird. Premierminister Sunak kündigte an, die Wahl auch zur Entscheidung darüber zu machen, ob Abschiebeflüge nach Ruanda starten werden oder nicht. Dabei räumte er am 23. Mai indirekt ein, dass seine Regierung es nicht schaffen werde, bis zum Wahltag mit den Abschiebungen zu beginnen; dies werde vielmehr erst geschehen, „wenn ich am 4. Juli wiedergewählt werde.“ Nun sprechen die Prognosen eindeutig gegen eine Wiederwahl Sunaks. Sie sehen die Labour Party als potenziellen Wahlsieger, und diese hat sich bereits darauf festgelegt, den Ruanda-Deal nicht weiter verfolgen zu wollen. Damit dürfte der migrationspolitische Tabubruch Großbritanniens seinem Ende zugehen.
Mit dem Illegal Migration Act 2023 und dem Safety of Rwanda (Asylum and Immigration) Act 2024 hatte die britische Regierung versucht, einen gesetzliche Rahmen für das bereits im April 2022 geschlossene Abkommen mit Ruanda zu schaffen. Mit dem Inkrafttreten des letztgenannten Gesetzes am 25. April 2024 galt das Ruanda-Abkommen als ratifiziert. Um es anwenden zu können, griff das Gesetz tief in die Befugnisse der britischen Justiz ein und ermächtigte die Regierung außerdem, sich über Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinwegzusetzen. Unmittelbar darauf begann das Innenministerium mit der Festnahme von Exilierten, die für die Abschiebung nach Ruanda vorgesehen waren. Andere wichen nach Irland aus, dessen oberstes Gericht zuvor eine Rückführungsvereinbarung mit Großbritannien suspendiert hatte, weil das Land wegen des Ruanda-Deals kein sicherer Drittstaat mehr sei (siehe ausführlich hier).
Seither wurde immer offensichtlicher, dass sich die Regierung Sunak mit ihrer Stop the boats-Agenda in eine Krise der Migrationspolitik manövriert hat, während die Zahl der Bootspassagier_innen momentan die symbolisch wichtige Marke von 10.000 überschreitet und damit ein Rekordniveau erreicht.
Symptomatisch für die politische Krise ist eine Entscheidung des obersten Gerichts von Nordirland. Laut BBC stellte es Anfang Mai fest, dass große Teile des Illegal Migration Act, also des gesetzlichen Rahmens für die Anwendung des Ruanda-Deals, „in Nordirland nicht angewendet werden dürfen“, weil sie sowohl gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen und darüber hinaus nicht mit dem 2023 überarbeiteten Post-Brexit-Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU vereinbar sind. Das Urteil stellt die Durchführbarkeit des Ruanda-Deals grundsätzlich in Frage und wirft zudem die Frage auf, ob eine national einheitliche Migrationspolitik im Vereinigten Königreich auf dieser Grundlage überhaupt möglich sei. Geklagt hatten die nordirische Menschenrechtskommission und ein 16jähriger Asylsuchender aus dem Iran. Der Fall gilt als Vorbote einer Vielzahl weiterer Anfechtungen der Ruanda-Strategie. Parallel dazu geht die Gewerkschaft First Division Association, die leitende Beamt_innen vertritt, juristisch gegen die Regierung vor. Die Gewerkschaft befürchtet, dass ihre Mitglieder bei der Umsetzung des Ruanda-Deals gegen geltendes Recht verstoßen würden, wenn sie die neuen Gesetze anwenden müssten.
Die Ruanda-Strategie gleicht damit früheren migrationspolitischen Vorhaben der britischen Post-Brexit-Rechten, die nach verheißungsvoller Ankündigung ganz oder teilweise scheiterten:
So kündigte die Regierung Johnson im Sommer 2020 die Abschiebung von mehr als 1.000 hauptsächlich aus Nordfrankreich eingereisten Migrant_innen bis zum Ausscheiden Großbritanniens aus dem EU-Dublin-System zum Jahreswechsel 2020/21 an. Die unter dem Namen Operation Sillath mit großem Aufwand vorbereitete Maßnahme führte zu einigen teils gewaltsam durchgeführten Abschiebeflügen, verfehlte das angekündigte Ziel jedoch ebenso wie den abschreckenden Effekt, den sie angeblich in Nordfrankreich bewirken würde (siehe hier). Noch krasser scheiterten das Vorhaben, Pushbacks an der Seegrenze im Ärmelkanal durchzuführen. Die Vorbereitungen hierfür waren weitgehend abgeschlossen, als die Regierung das Vorhaben im April 2022 abbrach (siehe hier). Im selben Monat schloss sie das Abkommen mit Ruanda, dessen Ende wir voraussichtlich nach der Wahl sehen werden.
Allerdings ist die Vorstellung, Geflüchtete ohne jegliche Prüfung ihres Schutzanspruchs in einen beliebigen Vertragsstaat zu verbringen, inzwischen bereits auf den Kontinent übergesprungen. Das absehbare Scheitern der britischen Regierung scheint auf eine bizarre Weise ausgeblendet zu werden.
Die britischen Fälle zeigen jedoch auch Grenzen einer radikalisierten Migrationspolitik auf. In allen Fällen scheiterten sie durch juristische Interventionen, die durch zivilgesellschaftliche Akteure und insbesondere auch Gewerkschaften flankiert wurden. Dabei spielten solche Gewerkschaften eine Schlüsselrolle, die öffentliche Bedienstete vertreten, die für die Durchführung der Pushbacks bzw. der Abschiebungen verantwortlich gewesen wären. Funktionieren konnten diese Interventionen nur im Wechselspiel mit einer unabhängigen Justiz, deren Verteidigung gegen Übergriffe der Exekutive, wie wir sie bei der britischen Ruanda-Stragerie sehr drastisch beobachten können, elementar ist.