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Was Rotherham mit Ruanda zu tun hat

Seit einer Woche halten rassistische Ausschreitungen Großbritannien in Atem. Dahinter steckt ein komplexes Gemisch aus politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Aspekten. Als auffälliges Element sticht dabei die Hetze gegen Bootsflüchtlinge hervor. Über die aktuelle Situation hinaus setzt das die neue Labour-Regierung unter erheblichen Druck.

Nur einen Monat nach dem deutlichen Wahlsieg der Labour Party sieht sich die Regierung Keir Starmers mit einem massiven Problem konfrontiert: die anhaltenden riots eines Mobs aus Rechtsextremist*innen, selbsterklärten „Patriot*innen“ und vermeintlich ganz normalen Familien oder Jugendlichen, häufig gehüllt in englische Fahnen. Sie richten sich gegen Hotels, in denen Asylberwerber*innen untergebracht sind (Angriffe gab es in Rotherham bei Sheffield und Tamworth nördlich von Birmingham) oder Moscheen. Vor der erwarteten Zuspitzung der Aktionen am heutigen Mittwoch berichten britische Medien von einer ´
hit list‘ mit 39 Zielen im ganzen Land, die angegriffen werden sollen – darunter Asylanwält*innen, NGOs und staatliche Asyl-Institutionen.

So schnell frisst sich die Flamme der Gewalt durch das aufgewühlte Land, dass kaum Zeit bleibt für eine ganze Reihe äußerst bedenklicher Entwicklungen, die es zu analysieren gilt: die Selbstverständlichkeit, mit der faschistische Gewalttäter in aller Öffentlichkeit ihre Hassverbrechen begehen und dazu aufrufen. Der Schulterschluss mit vermeintlich besorgten Bürger*innen, deren Gefühl der eigenen Benachteiligung so tief verinnerlicht ist, dass sie selbst solche Handlungen dadurch moralisch gedeckt sehen. Das Ausmaß, zu dem große Teile der Bevölkerungen durch jahrzehntelangen neoliberalen Aderlass abgehängt sind, was dem mordlustigen patriotischen Exzess seinen sozial-ökonomischen und kulturellen Nährboden bereitete.

Hinzu kommen die Verbreitung und bereitwillige Aufnahme falscher Informationen zum Täter der Messerattacke von Southport Ende Juli, auf die sich der rechte Gewaltausbruch bezog. Muslimische Gegendemonstrationen, die dem Mob mit „allahu akbar“- Chants entgegentreten. Schließlich auch die Erkenntnis, dass der Labour-Wahlsieg nicht in erster Linie, oder zumindest nicht nur, ein Linksruck ist, sondern der Enttäuschung über die Tory-Regierungen zuzuschreiben
– und der Tatsache, dass der Brexit die prekäre Lage weiter Bevölkerungsschichten eben nicht verbessert hat. Wer vor dem Aufmarsch von Nigel Farages Reform UK bisher die Augen verschlossen hat, sollte sie spätestens jetzt öffnen.

All dies ist Teil eines Cocktails aus Irrsinn, Identität und reaktionären synaptischen Kurzschlüssen, der seine eigene, unberechenbare Dynamik angenommen hat und sich kaum noch entschärfen lässt – ganz egal, wieviel Polizei die Starmer-Regierung in den nächsten Tagen noch aufbieten wird, um die Situation nicht vollends entgleisen zu lassen.

Ein Element, das sich wie ein roter Faden durch diese Gemengelage zieht, ist die klandestine Immigration vom europäischen Kontinent aus über den Ärmelkanal. Offensichtlichstes Anzeichen: die Parole „stop the boats“, die bei den rechten Kundgebungen, ähnlich wie „get them out“ oder „send them backallgegenwärtig ist. Britische Medienberichte erwähnen das vielfältig, auch ein antirassistischer Aktivist aus Kent bestätigt dies gegenüber unserem Blog. Auch auf einschlägigen Social Media-Kanälen findet sie sich, verbunden mit aufhetzender Rhetorik einer „Vergewaltigung Großbritanniens“ oder einer „Invasion“ durch Bootsflüchtlinge.

Der Fingerzeig auf faschistoide, identitäre und Alt Right-Akteure reicht freilich nicht weit genug. Denn „stop the boats“ ist ja gerade Versprechen, Auftrag, Mission, Prämisse, wie man es auch nennen mag, verschiedener aufeinanderfolgender konservativer Regierungen, Premierminiser und home secretaries der letzten Jahre. Eine X-Userin kommentierte dieser Tage: „Ihr Tories tragt eine riesige Verantwortung für das Chaos und die Bedrohungen auf unseren Straßen. Die rechten Schläger rufen eure Parole ‚Stop the Boats!‘“ Im Zug eines gesellschaftlichen Diskurses, der sich wie auch im Rest Europas immer weiter nach rechts verlagert hat und immer offener xenophobisch geriert, war diese Parole bereits vorher im Mainstream angekommen, wie auch ein Independent-Kommentar analysiert. In diesem Sommer zeigt sich dies auf den Straßen britischer Städte – in seiner ganzen Banalität, mitsamt seines ganzen gewalttätigen, mörderischen Potentials und dem unbedingten Willen zum Pogrom.

Eine besonders konkrete Verbindung zur Regierungspolitik bezüglich des Daueraufregers small boats herzustellen oblag derweil Lord Byron Davies. Dieser ist nicht einfach irgendein konservativer Politiker, sondern im Tory-Schattenkabinett für sein Herkunftsland Wales zuständig. Nach einigen Tagen riots diskutierte er auf X mit einem Kolumnisten der Mail on Sunday, der schrieb, für die Zustände auf den Straßen gebe es keine Entschuldigung. Doch wenn es darum gehe, jemanden dafür verantwortlich zu machen, sei Labour erst ein paar Wochen an der Macht, während die Tories doch die letzten 14 Jahre verbracht hätten. Er folgerte: „Keir Starmer und Yvette Cooper (die neue Innenministerin) verantwortlich zu machen, ist einfach lächerlich.“ Worauf Davies antwortete: „Aber Labour hat das Rwanda-Gesetz mehr als 130 Mal blockiert, natürlich ist es politisch gerechtfertigt.“

Nach Vorwürfen, Öl ins Feuer zu gießen, entschuldigte sich Davies zügig. Was freilich nichts daran ändert, dass in breiten Teilen der britischen Bevölkerung offenbar die Meinung vorherrscht, die small boats müssten, mit welchen Mitteln auch immer, gestoppt werden. Diese ist nicht nur der historisch und in der kollektiven Psyche tief verankerten Angst vor einer Invasion der Insel zu geschuldet, sondern auch dem politischen Diskurs der letzten zehn Jahre. Um die vermeintlichen Ursachen der sozialen Misere Großbritanniens zu lösen, suggerierte die populistische Rechte in dieser Zeit zwei Hebel: den Brexit und das Ende der Bootspassagen. Der erste hat sich nicht nur als wirkungslos erwiesen, sondern die Lage eher noch verschlimmert. Umso obsessiver rücken daher die Boote in den Fokus – sie zurückzudrängen wird zu einer Art heiligen patriotischen Pflicht. Was das für jene bedeutet, die darauf ihr Leben riskieren, ist in dieser Sichtweise maximal untergeordnet.

Die Regierung Keir Starmers ist durch die jüngsten Entwicklungen zweifach in erhebliche Bedrängnis geraten: zum einen gibt es kein Anzeichen für ein Abflauen der rechten Aufmärsche und Angriffe. Langfristig wird sie auf ihre Fähigkeit abgerechnet, die Bootspassagen zu unterbinden. Der nach dem Wahlsieg angekündigte Border Security Command kann damit zum Faktor werden, der über ihr politisches Überleben entscheidet. Wenn ihr das ebensowenig gelingt wie den Tories, wird das wohl in erster Linie der rechtspopulistischen Reform UK von Nigel Farage weiteren Auftrieb geben. Das von Starmer verkündete Ende des Rwanda-Plans war immer eher der Effizienz geschuldet als den Menschenrechten. Ein wirksames Vorgehen gegen die Bootspassagen dürfte künftig auch als eine Versicherung gegen weiter riots interpretiert werden.

Von Quellen vor Ort in Kent kommt derweil die Information, dass auch dort am heutigen Mittwoch eine gewaltsame Kundgebung bevorstehen könnte. Ein britischer Alt Right– Aktivist kündigt zudem per X an, Mitte August eine Woche in „Frankreich“ verbringen zu wollen. Es gebe genug finanzielle Mittel um mit „drei Autos voller Patriot*innen“ aufzubrechen. „Wer will dabei sein?“