Kategorien
Channel crossings & UK

Britische Rechtsextreme in Nordfrankreich?

Im Zuge der rassistischen Ausschreitungen in der ersten Augustwoche kündigten britische Rechtsextreme provokativ an, ab dem 11. August 2024 mit „drei Autos voller Patrioten“ in Calais zu agieren (siehe hier und hier). Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass eine solche Aktion tatsächlich stattgefunden hat. Vielmehr sitzt der Initiator des Aufrufs inzwischen in britischer Haft. Allerdings ist der Versuch, die Situation im nordfranzösichen Migrationsraum für rechtsextreme Kampagnen zu nutzen, damit nicht vom Tisch. Aber er ist auch nicht neu.

Der Aufruf, ab dem 11. August für eine Woche nach Calais zu kommen, stammt von Alan Leggett alias
„Active Patriot“. Er gilt als einer der aktivsten rechtsextremen Medienaktivisten und gehört einem Segment der britischen Szene an, das sich selbst als migrant hunters bezeichnet. Sein X-Account aus der Zeit der rassistischen Krawalle vermittelt den Eindruck, in Großbritannien sei ein Bürgerkrieg ausgebrochen, was Leggett mit seinen Postings weiter anstachelte. Der Aufruf, nach Calais zu reisen, entstammt diesem Kontext. Allerdings brechen seine Posting am 9. August ab. Andere Rechtsextreme teilten bestürzt mit, er sei an diesem Tag von der britischen Polizei verhaftet worden und dürfte seinen Account vorerst nicht weiter bedienen.

Tweet des britischen Innenministeriums gegen rasssitische Ausschreitungen, 16. August 2024 (Quelle: UK Home Office / X)

Der Mann gehört damit zu den mehr als 1.000 Personen, die nach Angabe der britischen Behörden aufgrund ihres Verhaltens während der Krawalle festgenommen wurden. Diese massive Antwort des britischen Rechtsstaates dürfte ein wesentlicher Grund für das Abflauen der Ausschreitungen sein. Das britische Innenministerium veröffentlicht momentan täglich Namen und Fotos verurteilter Straftäter_innen, die von der rechtsextremen Szene im Gegenzug zu politischen Gefangenen stilisiert werden. „Active Patriot“ ist also bis auf weiteres inaktiv und dürfte so bald nicht nach Calais reisen.

Dies bedeutet aber nicht, dass Calais bzw. die nordfranzösische Küste aus dem Fokus rechtsextremer britischer Aktivist_innen verschwunden wären. Die starke Fokussierung der Krawalle auf die Channel migrants, ihre Dämonisierung durch falsche der verzerrte Informationen und die Radikalisierung der Tory-Parole Stop the boats haben Calais stärker in den Fokus dieser Szene gerückt. Es bleibt abzuwarten, ob dies konkrete Aktionen motiviert, sobald die Wunden, die der britische Staat der Szene geschlagen hat, geleckt sind.

Bereits in der Vergangenheit beschränkten sich antimigrantische britische Aktivist_innen nicht darauf, mit ihren Ferngläsern auf den Klippen der englischen Küste zu stehen und die Ankunft der Schlauchboote zu skandalisieren. Momentan zirkulieren mehrere in Nordfrankreich aufgenommene Videos der britischen Rechten.

So postete Nigel Marcham alias „The Little Vateran“ ab dem 23. Juli 2023 mehrere Beiträge aus Nordfrankreich. Ein Beispiel ist der 44-minütige Film France part two body cam and night vision footage. Darin verwendet der schon ältere ehemalige Militärangehörige zwei mit einer Bodycam aufgenommene Videosequenzen, die er von seinem Sofa aus kommentiert. Beide Sequenzen entstanden unter Mitrkung zweier jüngeren Aktivisten, von denen einer eine Weste mit der Aufschrift Official trägt und damit den Eindruck erweckt, einer öffentlichen Institution anzugehören.

Werbung für ein selbst produziertes Video mit Aufnahmen aus Nordfrankreich, Juli 2024 (Quelle: X)

Die erste Sequenz zeigt den Streifzug durch ein Gelände auf der Suche nach Camps, aber lediglich ein verlassener Platz mit herumliegenden Gegenständen wird gefunden. Dort finden die Aktivisten eine Fahrplanauskunft der Deutschen Bahn für eine Reise von Oberfranken nach Nordfrankreich mit dem Namen und der Unterschrift des Reisenden sowie das von französischen NGOs verteilte und online einsehbare Safety at Sea-Flugblatt mit Notrufnummern und lebensrettenden Hinweisen. Marcham präsentiert die Fundstücke wie forensiches Beweismaterial hält das Flugblatt als vermeintlichen Beweis für eine „high organized military operation“ in die Kamera.

Die zweite Bodycam-Sequenz desselben Videos entstand bei Nacht und Morgengrauen an einer potenziellen Ablegestelle der Boote. Zu sehen sind jedoch lediglich eine Kontrolle der Aktivisten durch die französische Polizei und ein Gespräch mit einem zufällig dort anwedensen Team von Utopia 56. „The Little Veteran“ redet nach kurzem Dialog provokant über britische Steuergelder, Migration und Vergewaltigungen. Das Team von Utopia 56 verhält sich professionell und geht auf die Provokation nicht ein.

Am Ende des Videos kündigt Marcham an, er wolle erneut nach Frankreich reisen; er wiederholt diese Ankündigung in Postings vom 3. und 5. August: „Gettin ready for Return trip to France, for as long as it takes. If you like my work and would like to help with travel costs PayPal and bank details below many thanks everyone for your support L[ittle] V[eteran]“. Bislang scheint der Plan nicht über die Spendensammlung hinausgekommen zu sein (Stand: 18. August).

Marcham Video zeigt nichts, was nicht ohnehin bekannt wäre, und besteht über weite Strecken aus irrelevantem Material wie dem Anlegen der Bodycam und langen Wegstrecken durch Gebüsch und nächtliche Dünen. Die wenigen und scheinbar nur unter großen Schwierigkeiten recherchierbaren Informationen sind trivial und wurden bereits vielfach von seriösen Medien und solidarischen Akteur*innen benannt. Die Aussicht, auf diese Weise Geflüchtete von einer Bootspassage abzuschrecken oder solidarische NOGs einzuschüchtern, ist absolut unrealistisch und zeugt von massiver Selbstüberschätzung. Es dürfte also in erster Linie um Selbstinszenierung gehen. Dabei versteigt sich der ältere Mann, unter dem Foto eines Kampfflugzeugs sitzend, zu der Aussage, er würde seine nächsten Bodycam-Aktion in Frankreich notfalls alleine durchziehen, denn er könne militärischer Denken als jeder andere. Eine bizarre Szene.

Präsentation von altem Bildmaterial als angeblich aktuelle Undervocer-Recherche britischer Rechter in Frankreich einschließlich einer Bootsüberfahrt. (Quelle: X).

Währenddessen zirkulieren in rechtsextremen britischen Medien scheinbar aktuelle „Undercover“-Aufnahmen des Aktivisten Lee West alias „Trampface“ alias „Wolf the World“. Zu sehen sind ein Camp in Calais und die probeweise Passage des Ärmelkanals mit einem eigenen Schlauchboot, das die Überfahrten der Migrant_innen simulieren und die Untätigkeit der britischen Küstenwache dokumentieren soll. Der rechte Kanal British Thought Leaders verwendete das Material im August für ein 34-minütiges Video mit dem Titel Living with Migrants and Crossing the Channel in a Dinghy. A Royal Marine Undercover; eine Kurzfassung folgte auf GB News. In beiden Beiträgen gibt West ein Interview. Die Ankündigung der Beiträge erweckt den Eindruck, die Videos seien aktuell und gäben ein realistisches Abbild der momentanen Situation.

Tatsächlich hielt sich Lee West, älteren Tweets zufolge, bereits im April 2015 mehrere Tage „undercover“ in Calais auf. Im Jahr 2018 veröffentlichte er das Buch Trampface: Undercover in the Jungle, in dem auch die Überfahrt mit dem Schlauchboot beschrieben wird. Sein für die aktuellen Videos verwendetes Bildmaterial zeigt die Situation in Calais zu diesem Zeitpunkt, also vor sechs Jahren. 2018 aber ist das Jahr, in dem die Bootspassagen überhaupt erst einsetzten und erst im Herbst von Medien und Politik als ernsthaftes Phänomen wahrgenommen wurden. Dass ein eigener Aktivist in diesem Jahr demonstrierten, dass eine solche Passage mit einfachen Mitteln machbar ist, dürfte aus rechter Perspektive zumindest fragwürdig erscheinen. Wenn rechte Medien nun genau dieses Material zweitverwerten, ist das ein Zeichen des Mangels, nicht der Stärke.