Nach einer Schlechtwetterphase, in der kaum Schlauchboote übersetzten, war der 5. Oktober 2024 der Tag mit den meisten Bootspassagen seit Jahresbeginn. Am diesem Tag kam es zu zwei weiteren tödlichen Ereignissen. Dabei starben vier Menschen, unter ihnen ein Kind im Alter von zwei Jahren. Mit ihrem Tod setzt sich die fatale Dynamik der Vormonate fort. Seit Jahresbeginn starben 57 Menschen bei dem Versuch, Großbritannien zu erreichen. Mit dem Beginn der kalten Jahreszeit steigt ihre Zahl noch stärker an.[Updated, 6. Oktober 2024]
Über den ersten der beiden aktuellen Fälle teilt die Seepräfektur (Préfecture maritime Manche et mer du Nord, kurz: Premar) mit, die Rettungsleitstelle CROSS Gris-Nez sei am Morgen des 5. Oktober über die Abfahrt mehrerer Schlauchboote informiert worden. Die Leitstelle habe das Marineschiff Abeille Normandie mit der Überwachung eines Bootes beauftragt. Welche Situation die Besatzung vorfand, wird nicht konkretisiert. Premar schreibt lediglich: „Von den Insassen konnten 15 geborgen werden, darunter ein lebloses Kind.“ Ein per Hubschrauber an Bord der Abeille Normandie geholtes medizinisches Team erklärte das Kind für tot.
Die nordfranzösische Zeitung La voix du Nord berichtete in mehreren Beiträgen, das Boot sei vermutlich bei Boulogne-sur-Mer in See gestochen. Laut dem dortigen Staatsanwalt, Guirec Le Bras, war das getöteten Kind zwei Jahre alt, somalischer Herkunft und in Deutschland geboren. Es wurde vermutlich im Gedränge beim Ablegen des Bootes erdrückt. Der Bürgermeister der Hafengemeinde bei Boulogne, wohin das Kind gebracht wurde, sagte nach einer Begegnung mit der Mutter: „Ihr Kind starb in ihren Armen und ihre beiden anderen Kinder, die noch am Leben waren, wussten nicht, was vor sich ging.“
Die drei anderen Todesopfer desselben Tages wurden bei Calais entdeckt. Spekuliert wird, dass das Boot am Strand von Oye-Plage zwischen Calais und Dunkerque aufgebrochen sei. Laut Premar habe zunächst eine auf die See- und Hafensicherheit spezialisierte Einheit der Gendarmerie (Peloton de sûreté maritime et portuaire; PSMP) das in See stechende Boot beobachtet und sei dann durch das Patrouillenschiff Flamant unterstützt worden. „Die Flamant nahm daraufhin 71 Personen an Bord, von denen drei leblos waren.“ Auch bei ihnen konnte nur noch der Tod festgestellt werden. Zwölf Personen seien an Bord des Schlauchboots verblieben und hätten ihre Fahrt fortgesetzt, bevor sie später von einem anderen Rettungsschiff geborgen wurden. Demnach müssen sich über 80 Menschen an Bord des Bootes befunden haben.
Nach Angaben des Präfekten des Departements Pas-de-Calais, Jacques Billant, handelt es sich bei den Toten um zwei Männer und eine Frau in den dreißiger Jahren ihres Lebens; sie „stammten aus Afrika und Vietnam“. Vermutet werde, dass sie im Bodenbereich des überfüllten Bootes erstickten, erdrückt wurden bzw. ertranken.
Die Todesfälle ereigneten sich, nachdem zwischen dem 24. September und 3. Oktober wegen stürmischer Witterung lediglich zwei Boote den Kanal überquert hatten. Danach registrierten die britischen Behörden am 4. Oktober, dem Vortag der neuerlichen Todesfälle, die Ankunft von sieben Booten mit 395 Passagier_innen. Die in Boulogne-sur-Mer aktive Initiative Osmose 62 beschreibt die Situation am selben Tag nach der Versorgung gestrandeter Passagier_innen: „Selbst bei 4 Grad war die Entschlossenheit der Exilierten, den Ärmelkanal zu überqueren, […] noch sehr präsent. […] Ihr Wille, unerträglichen Lebensbedingungen zu entfliehen, treibt sie dazu, die größten Gefahren auf sich zu nehmen. Immer mehr Menschen legen auf unsicheren Booten ab, die manchmal nur mit Strandbojen ausgestattet sind, und sind gezwungen, bei dieser Überfahrt extreme Risiken einzugehen.“ Am 5. Oktober, an dem sich die Todesfälle ereigneten, setzten 17 Boote mit 973 Passagier_innen über – so viele wir an keinem anderen Tag seit Jahresbeginn. Neben den Einsätzen, bei denen die Toten gefunden wurden, fanden am selben Tag laut Premar vier weitere Rettungeinsätze im französischen Küstengewässer statt, insgesamt wurden 237 Exilierte gerettet.
Die Todesfälle gleichen einem Muster, das wir im Laufe des Jahres immer wieder beobachten mussten: Menschen ertrinken nicht allein nach Havarien auf hoher See, sondern sterben bei Ablegemanövern oder auf überfüllten und instabilen Booten. Regionale NGOs weisen vehement darauf hin, dass die Verantwortung für den Anstieg die Todesfälle nicht allein bei Schleuser_innen liegt, sondern auch die Folge des verstärkten Überwachungsdrucks ist, der überhastete Ablegemanöver bewirkt und zu riskanteren Passagen beiträgt.
Am 3. Oktober bestätigte der neue französische Innenminister, Bruno Retailleau, diesen Zusammenhang auf überraschende Weise. Nach einer Zusammenkunft mit seiner britischen Amtskollegin schrieb er auf X: „Frau Cooper lobte den heroischen Einsatz der Ordnungskräfte bei der Verhinderung von Überfahrten nach Großbritannien. Wir teilten auch die Feststellung, dass diese Effizienz schädliche Folgen (conséquences néfastes) hatte, mit einem Anstieg der Todesfälle und der Gewalt unter Migranten und gegenüber den Ordnungskräften“. Der Minister benannte den Sachverhalt, problematisierte ihn aber nicht. Zwei Tage später sprach er mit Blick auf das getötete Kind vom Blut, das an den Händen der Schleuser klebe: „[U]nsere Regierung wird den Kampf gegen diese Mafias, die sich an der Organisation dieser Todesfahrten bereichern, verstärken.“ Die „schädlichen Folgen“ der „Effienz“ blieben unerwähnt.
Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit der Kanalroute ist nach unserer Zählung auf 57 angestiegen – die Zahl umfasst nicht allein Todesfälle bei Bootspassagen, sondern auch in anderen Kontexten sowie im französischen und belgischen Hinterland der Grenze. Hinzu kommen auf See Verschollene ohne realistische Überlebenschance. Etwa die Hälfte der Opfer starb in dem kurzen Zeitraum seit Anfang September.
Am Abend des 6. Oktober findet in der Calaiser Innenstadt ein solidarisches Gedenken an die Opfer statt; ein weitere Hommage ist für den 7. Oktober in Dunkerque geplant.