Angesichts der zahlreichen Todesfälle fordert eine Gruppe von Bürgermeister_innen die Neuverhandlung des französisch-britischen Abkommens von Le Touquet aus dem Jahr 2003, das den Kern des Grenzregimes in der Ärmelkanalregion bildet. Ihre Initiative könnte einen dringend erforderlichen Raum für die Suche nach politischen Alternativen zur jetzigen Situation öffnen, wäre sie anders angelegt. Stattdessen umfasst sie vor allem Forderungen, die zu einer weiteren Verschlechterung der humanitären und menschenrechtlichen Situation im nordfranzösischen Grenzgebiet führen könnten.
Die Initiative zu einem gemeinsamen politischen Handeln der Gemeinden in dem am stärksten von Bootsabfahrten betroffenen Küstenabschnitt ging von Natacha Bouchart, der Bürgermeisterin von Calais, aus. Sie hatte 2008 die jahrezehntelange Hegemonie der Kommunistische Partei beendet und sich in den folgenden Jahren mit einer konservativen Agenda profiliert, die, gegen die informellen Lebensorte von Geflüchteten in ihrer Stadt gerichtet, oft mit einer rechtspopulistischen Rhetorik einherging. Trotz ihrer politischen Ambitionen auf nationaler Ebene – sie war von 2011 bis 2016 Senatorin des Departements Pas-de-Calais – gilt Bouchart als angeschlagen. Es ist damit zu rechnen, dass der Rassemblement National versuchen wird, bei der Kommunalwahl 2026 das Rathaus zu übernehmen. Bouchart hingegen gehörte dieser rechtsextremistischen Partei nie an und setzte sich während der Präsidentschaftswahl im Sommer 2024 für Emanuel Macron ein.
Für den 8. Oktober 2024 lud Bouchart vierzehn Amtskolleg_innen aus den Küstengemeinden zwischen Bray-Dunes und Groffliers ein, um gemeinsame Forderungen an die Regierung zu formulieren. Im Vorfeld markierte sie sehr deutlich, in welche Richtung ihre Initiative zielte: Die Zeitung La Voix du Nord zitiert sie mit der Forderung nach „Wiedereinführung des Straftatbestands des illegalen Aufenthalts“ im Küstengebiet, „um die Abschiebung von Personen, die nicht um Asyl in Frankreich ersuchen, zur Pflicht zu machen“. Zweitens solle ein „Sonderstatus für Calais und die Küste als Grenzgebiet seit dem Brexit“ geschaffen werden. Drittens forderte Bouchart „die Schaffung mehrerer humanitärer Aufnahmestellen in Europa“, und zwar sowohl in Staaten, die Exilierte „vor der Ankunft in Calais durchquert“ hätten, als auch in Frankreich selbst, „jedoch außerhalb unseres Ballungsraums, um einen Sogeffekt zu vermeiden“. Ähnliche Forderungen hatte Bouchart bereits in früheren Jahren formuliert. Unter den aktuellen Bedingungen verknüpfte sie sie mit dem Versprechen, auf diese Weise Todesfälle zu vermeiden.
Aus einer Umfrage der Lokalzeitung geht hervor, dass die „Küstenbürgermeister“ das Treffen als ein dringend benötigtes Forum für den gemeinsamen Austausch begriffen. „Früher hatten wir regelmäßige Treffen mit der Präfektur und den Gendarmen. […] Heute nichts, ich habe das Gefühl, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein“, zitiert das Blatt etwa den Bürgermeister von Audresselles bei Boulogne-sur-Mer. „Diese Bürgermeister der Boulonnais stehen kurz vor einem Nervenzusammenbruch“, resumiert das Blatt. Immer wieder schilderten Bürgermeister in den vergangenen Monaten eine empfundene Ohnmacht bei der Konfrontation mit Opfern und Überlebenden von Havarien in ihren Gemeinden.
Das Treffen in Calais führte zur Gründung eines „Kollektivs der Küstenbürgermeister“, das zunächst einen Brief an Premierminister Barnier sandte und seinen Standpunkt dann auf dem Kongresses der französischen Bürgermeister in Paris darlegte. Bouchart, die vorab den konservativen Innenminister Retailleau getroffen hatte, empfahl für diese Bühne eine brachiale Rhetorik, um eine hohe mediale Aufmerksamkeit zu generieren und die regionale Problematik auf die nationale und diplomatische Ebene zu heben. Während des Kongresses war sie es, die auf einer Pressekonferenz am 20. November die Forderungen des Kollektivs vortrug.
Der neun Punkte umfassende Forderungskatalog des Kollektivs trägt durchweg eine konservative und repressive Handschrift. Erfahrungen und Vorschläge zivilgesellschaftlicher Akteure finden keine Berücksichtigung, auch von einer Verbesserung der humanitären und menschenrechtlichen Lage der Exilierten ist nicht die Rede. Vielmehr zielt das Papier einerseits auf ein verstärktes Engagement des französischen Staates bei Polizeiaufgaben und Abschiebungen, andererseits stellt es Grundlagen der bilateralen Grenzpolitik infrage und fordert die französische Regierung zur Einwirkung auf die britische Innenpolitik auf.
Im Einzelnen lauten die Forderungen (zitiert nach La Voix du Nord v. 20. November 2024):
- Einführung eines Küstenpräfekten (préfet du littoral), der für Einwanderung zuständig ist.
- Einrichtung einer Transportpolizei (police des transports).
- Einrichtung einer Informationsmission zur Migrationskrise.
- Forderung nach einem Arbeitstreffen mit dem Innenminister in Paris oder an der Küste.
- Eine gesetzliche Maßnahme zur Abschiebung aus dem Küstenstreifen im Rahmen eines versuchsweisen Gesetzes.
- Die Schaffung von humanitären Aufnahmestellen außerhalb des Küstenstreifens.
- Neuverhandlung des Abkommens von Le Touquet.
- Aufnahme starker Verhandlungen mit den Briten und der Europäischen Union (Familienzusammenführung, britisches Arbeitsrecht, Dublin-Abkommen).
- Zusätzliche Mittel und Rückerstattung für Gemeinden, die aus eigenen Mitteln hohe Ausgaben tätigen (Entsorgung des in den Camps zurückgelassenen Mülls, Sicherung von Standorten).
Wie wohl von vornherein kalkuliert, rückte die Forderung Nr. 7 rasch in den Fokus. „Die Bürgermeister der Küste wollen den Briten gegenüber hart vorgehen und die Vereinbarungen von Le Touquet sprengen. Die englische Vorherrschaft in Calais ist vorbei“, spitzte La Voix du Nord diese Stoßrichtung auf bizarre Weise zu.
Das am 4. Februar 2003 unterzeichnete französisch-britische Abkommen von Le Touquet bildet die rechtliche Grundlage für die Durchführung vorgelagerter britischer Grenzkontrollen auf französischem Staatsgebiet. Dies betraf damals zwar nur Fährhäfen, hatte im weiteren Verlauf jedoch zur Folge, das Frankreich immer mehr Aufgaben übernahm, um Migrant_innen am Verlassen des Landes und der Weiterreise nach Großbritannien zu hindern. Dies verstetigte die frühzeitig sichtbare humanitäre Krise in den Hafenstädten Calais und Dunkerque, und weil kommerzielle Schleuser es verstanden, diese Situation zu kapitalisieren, führte es letztlich in eine Art Patt.
Die Forderung nach einem Austritt Frankreichs aus dem Abkommen von Le Touquet ist nicht neu; sie wurde von der französischen Rechten von Zeit zu Zeit mit der Intention vorgebracht, sich der Exlilierten an der Kanalküste zu entledigen. Auch heute ist ein Aufsprengen der Vereinbarung unrealistisch. Der britische Premier Starmer machte umgehend deutlich, dass er zwar zu Gesprächen, nicht aber zu einem Verzicht auf die externalisierten Grenzkontrollen bereit sei: „Wir müssen diese Kontrollen dort durchführen. Ich werde das mit den französischen Behörden besprechen, weil es sich um eine sehr wichtige Bestimmung handelt. Ich bin darüber besorgt und werde entschlossen dafür sorgen, dass wir die Kontrollen dort bekommen, wo wir sie brauchen“, erklärte er gegenüber BBC.
Dabei wäre eine politische Initiative, um einen Weg aus der fatalen Situation an der Kanalküste zu finden, schlicht zu begrüßen. Die Bürgermeister_innen der Küstengemeinden haben in ihrer Einschätzung völlig recht, dass die bloße Fortführung der momentanen Politik die Situation nicht verbessern und nicht zu einem Rückgang der Todesfälle führen wird. Auch könnte eine Neuaushandlung oder vielleicht auch nur Neuauslegung der in Le Touquet festgeschriebenen Grenzpolitik den politischen Raum eröffnen, um einen praktikablen und sicheren Zugang in das britische Asylsystem zu schaffen, das der Mehrzahl der Channel migrants am Ende ohnehin einen legalen Aufenthaltstitel zuspricht. Die im Küstengebiet aktiven zivilgesellschaftlichen Akteur_innen könnten mit ihrem langjährigen Erfahrungswissen, ihrer Nähe zu den Exilierten und ihrer Vernetzung mit wissenschaftlicher Forschung dabei eine Schlüsselrolle spielen.
Die Küstengemeinden scheinen die Chance einer progressiven Veränderung der Situation, so klein sie auch sein mag, zu Gunsten eines populistischen Effekts verspielt zu haben. Leider.