In mehreren deutschen Städten fanden am 4. Dezember 2024 Festnahmen und Razzien statt, die sich gegen kommerzielle Schleusungen über den Ärmelkanal richteten. Wie bereits in früheren Fällen, waren die Maßnahmen von mehreren europäischen Staaten unter dem Dach der europäischen Polizeibehörde Europol vorbereitet worden. Wenn sich die Innenminister_innen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und der Niederlande am 10. Dezember im Rahmen der sogenannten Calais Group treffen, um ihren Umgang mit den Bootspassagen zu beraten, werden die Razzien wohl als wichtiger Erfolg gewürdigt werden. Ihr reale Einfluss auf das Geschehen am Kanal dürfte sich indes in Grenzen halten. Allerdings könnte ein anderer Beschaffungsweg für Schlauchboote in den Fokus rücken, der aufgrund einer Regelungslücke im deutschen Strafrecht bislang legal ist.
Vergleichbare Razzien wie am 5. Dezember gab es bereits am 5. Juli 2022 und 21. Februar 2024. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich gegen mutmaßliche Schleuser_innen aus dem Irak richteten, auf die Lieferwege der Schlauchboote abzielten und ihren Schwerpunkt in Deutschland hatten. Auch wurden sie auf dieselbe Weise vorbereitet und durchgeführt: Im Rahmen des EMPACT-Programms, das sich gegen schwere Formen organisierter Kriminalität richtet, koordiniert die EU-Polizeibehörde Europol einige Dutzend Operational Task Forces (OTF), in denen mehrere EU- bzw. Drittstaaten zeitlich befristet auf ein klar umrissenes Ziel hin zusammenarbeiten; zusätzlich eingebunden ist die EU-Justizbehörde Eurojust. Zwei aufeinanderfolgende OTFs beschäftigten sich seit 2021 mit der Kanalroute. Ihre Arbeit mündete in sogenannten Common Action Days, bei denen deutsche Behörden Haftbefehle und Duchsuchungsbeschlüsse französischer oder belgischer Stellen vollstreckten: Dies waren die Razzien vom Juli 2022 und Februar 2024, zu denen nun eine weitere hinzukommt.
Aus Pressemitteilungen von Europol und der britischen National Crime Agency (NCA) geht hervor, dass auch die aktuelle Razzia von einer solchen OTF vorbereitet wurde, in der Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Belgien und die Niederlande – die Staaten der Calais Group – unter der Leitung von Europol zusammenarbeiteten. Es dürfte sich um dieselbe Task Force handeln, die unter dem Namen OTF Wave bereits die Razzia im Februar 2024 vorbereitet hatte (siehe ausführlich hier und hier).
Der Common Action Day vom 4. Dezember 2024 fügt sich völlig in diese etablierte Struktur ein. Die deutsche Polizei vollstreckte Durchsuchungs- und Haftbefehle eines Gerichts in Lille, das umfassend gegen in Deutschland aktive Schleuser ermittelt. Wie das Präsidium der deutschen Bundespolizei mitteilt, lief die Vollstreckung der „französische[n] Ermittlungsanordnungen“ über die Generalstaatsanwaltschaften Hamm, Karlsruhe und Köln sowie die Staatsanwaltschaften in Düsseldorf und Heidelberg, und zwar „unter Koordinierung von Europol sowie Eurojust“. Insgesamt setzte die Bundespolizei „rund 500 Beamtinnen und Beamte“ ein, darunter Spezialkräfte. „Den Einsatzmaßnahmen wohnten mehrere Beamte aus Frankreich, eine britische Beamtin, drei Vertreter von Europol sowie ein Beamter des BKA bei.“ In Köln bestand ein Koordinationszentrum.
Die Razzien richteten sich, so Europol, gegen „ein irakisch-kurdisches Netzwerk, das im Verdacht steht, Migranten aus Mittelost und Ostafrika mit nicht EU-zertifizierten, minderwertigen Schlauchbooten illegal von Frankreich in das Vereinigte Königreich zu schmuggeln.“ Grundlage seien Ermittlungen des Office de lutte contre le trafic illicite de migrants (OLTIM), eine auf Schleusungen spezialisierte Einheit der französischen Polizei, die während des Aktiontages 20 Ermittler_innen nach Deutschland entsandte. Konkret ermittelt werde gegen „irakische und syrische Staatsangehörige kurdischer Herkunft, die sich in Deutschland aufhielten“; die Bundespolizei spricht zusätzlich von Verdächtigen libanesischer und deutscher Nationalität als Teil eines „irakisch-syrisch-dominierte[n] Schleusernetzwerk[s]“. Sie sollen, so Europol, „den Kauf und den Transport von Schlauchbooten, die für den EU-Markt ungeeignet waren“, organisiert haben. Die Boote seien „aus der Türkei durch Frankreich [sic]“ eingeführt und in Deutschland gelagert worden.
Die Razzien fanden in Nordrhein-Westfalen und Baden-Wüerttemberg statt, mit Schwerpunkt im Ruhrgebiet. Deutsche Medien nennen beispielsweise Essen, Gelsenkirchen, Bochum und Grevenbroich. Laut Europol wurden 25 Orte durchsucht (15 Wohngebäude und 10 Lager), die sämtlich in Deutschland lagen. Dabei seien 21 aufblasbare Boote, 24 Motoren, 76 Rettungswesten, über 600 Schläuche und 100 Luftpumpen beschlagnahmt worden, außerdem etwa 70.000 Euro in bar, Gold im Wert von 5.000 Euro und über 40 elektronische Geräte, offenbar vor allem Mobiltelefone. Abweichend davon spricht die Bundespolizei von 17 Schlauchbooten und drei Motoren. Insgesamt wurden 13 Personen festgenommen, davon acht in Deutschland und fünf in Frankreich. Einen der Festgenommenen bezeichnet Europol als „High Value Target“, womit eine Schlüsselperson der Organisierten Kriminalität gemeint ist. Bereits im Vorfeld war am 13. November ein Verdächtiger am Amsterdamer Flughafen festgenommen worden (siehe hier).
Die Razzia fand sechs Tage vor dem Treffen der Calais Group statt, das für den 10. Dezember 2024 in London angesetzt ist. An diesen jährlichen Treffen nehmen die Innenminister_innen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschland, Belgiens und der Niederlande sowie Europol und Frontex teil. Der Zusammenarbeit im Rahmen von Europol und den Aktionstagen im Juli 2022 und Februar 2024 wurde auf früheren Treffen der Gruppe stets eine Schlüsselrolle zugemessen. Auch die aktuellen Razzien dürften dort als ein weiterer Erfolg gegen kommerzielle Schleusungen gewürdigt werden, was die Richtung künftiger Entscheidungen vorzeichnet.
Aber dies ist nicht alles. Ende Oktober berichtete BBC in einer Investigativrecherche über eine im Ruhrgebiet praktizierte Variante kommerzieller Schleusungen. Diese basiert auf dem hochpreisigen Verkauf von Schlauchbooten und Bootszubehör bereits in Deutschland, sodass der Käufer selbst eine ausreichende Zahl an Passagier_innen finden und selbst für die Organisation der Passage sorgen muss. Offenbar richteten sich die aktuellen Razzien gegen dieses bislang wenig beschriebene Geschäftsmodell.
Gleichwohl besteht in Deutschland jedoch ein völlig legaler Handel mit Schlauchbooten, die dann am Ärmelkanal verwendet werden. Grundlage hierfür ist eine Rgelungslücke im deutschen Strafrecht, die nach der genannten BBC-Recherche eine hohe mediale und politische Aufmerksamkeit in Großbritannien erfuhr. Aber schon 2021 berichteten britische Medien über eine im nordrhein-westfälischen Werne ansässige Firma, deren Schlauchboote in größerer Zahl für Bootspassagen nach Großbritannien verwendet wurden. Ein Boot dieses Ursprungs fanden wir vor wenigen Tagen an einem Strand bei Calais, wo am Abend zuvor ein Passageversuch von der Polizei verhindert worden war. Die britische Regierung dürfte das bevorstehende Treffen der Calais Group wahrscheinlich nutzen, um auf eine Änderung des deutschen Strafrechts und damit auf die Schließung dieser faktisch legalen Lieferkette zu drängen.
Problematisch an all dem ist, wie an dieser Stelle schon vielfach beschrieben, dass die Verknappung der Boote nicht zu einem Rückgang der Todesfälle am Kanal führen dürfte, sondern im Gegenteil zu noch stärker überladenen Booten. Ein politischer Ausweg aus diesem Patt ist nicht sichtbar, er wird aber umso schwerer zu finden sein, je stärker Migration auf eine Frage der Strafverfolgung verengt wird.