
Jüngst vorgelegte Daten der EU-Grenzagentur Frontex zeigen einen Rückgang der versuchten Grenzpassagen auf allen Migrationsrouten in die EU. Im Durchschnitt betrug der Rückgang etwa ein Viertel gegenüber dem Vorjahr, divergierte aber regional stark. Eine Migrationsroute bildet jedoch eine Ausnahme: Es ist der Ärmelkanal. Die Zahl der Passageversuche ist dort nicht zurückgegangen, sondern leicht angestiegen. Auch ist die Kanalroute ist nun diejenige, auf der die meisten Passageversuche registriert wurden.

Die Zahlen umfassen sowohl gescheiterte bzw. verhinderte, als auch erfolgreiche Grenzübertritte. Auf der Kanalroute stieg sie laut Frontex in den Monaten Januar bis April 2025 gegenüber dem Vorjahr um 5 % auf 18.120, wobei dieselbe Person mehrmals gezählt sein kann. Laut Frontex handelt es sich vor allem um Menschen eritreischer, afghanischer und syrischer Nationalität. Auf der Zentralen Mittelmeerroute sank die Zahl der versuchten/erfolgreichen Grenzübertritte hingegen um 3 % auf 15.718, während sie im östlichen Mittelmeer und in Westafrika um mehr als 30 % und auf dem westlichen Balkan sogar um fast 60 % zurückging.
Die Gründe für diese Rückgänge sind vielfältig. Zu ihnen gehören der Sturz des Assad-Regimes in Syrien und die nautischen Bedingungen auf dem Mittelmeer, aber auch die Verschärfung der Migrationsbekämpfung im Vorfeld der südlichen EU-Außengrenze etwa in Tunesien und Mauretanien, bei der Menschenrechtsverletzungen faktisch hingenommen werden, und die veränderte Situation auf den griechischen Inseln. „Die brutalen Praktiken an den See- und Landgrenzen Griechenlands und Bulgariens, insbesondere die Zurückweisungen, hatten ebenfalls eine abschreckende Wirkung“, erklärte beispielsweise eine Migrationsexpertin Helena Hahn (European Policy Center) gegenüber InfoMigrants.
Eine vergleichbare Schleifung menschenrechtlicher Normen hat es im französischen Vorfeld der britischen Außengrenze nicht gegeben; weder die Hoffnungen noch die Hürden, die mit einer undokumentierten Reise aus der EU nach Großbritannien verbunden sind, haben sich signifikant verändert. Allerdings haben sich Veränderungen der Migration in die EU in der Vergangenheit erst zeitversetzt am Ärmelkanal ausgewirkt. Galt etwa in Deutschland das Jahr 2015 als Höhepunkt der sogenannten Migrationskrise, war es in Calais das Jahr 2016, ins kollektive Gedächtnis eingagangen in Form des Jungle mit seinen bis zu 10.000 Bewohner_innen. Der Grund dieser Ungleichzeitigkeit liegt auf der Hand: Damals wie heute haben ein Teil der Menschen vor ihrer Ankunft am Ärmelkanal bereits einige Zeit in Deutschland oder einem anderen EU-Land gelebt. Politischer Druck und populistische Hetze gegen Geflüchtete, erlebte Unsicherheit und Perspektivlosigkeit, aber auch die begründete oder unbegründete Hoffnung auf bessere Bedingungen in Großbritannien, führen zu einer zeitversetzten Sekundärmigration auf der Kanalroute.
Die von Frontex vorgelegten Zahlen bestätigen zugleich die Beobachtung, dass noch nie so viele Menschen die Bootspassage nach Großbritannien in den Wintermonaten auf sich genommen haben wie in diesem Jahr (siehe hier und hier). In den Monaten Januar bis April 2025 gelangten nach Angaben der britischen Behörden 45 % mehr Menschen auf Schlauchbooten in das Vereinigte Königreich als im Vorjahr. Die britischen Behörden registrierten damit einen deutlich stärkeren Anstieg als Frontex, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Bootspassagen inzwischen straffer organisiert sind, was allerdings die Risiken für die betroffenen Menschen nicht mindert.
Die Daten von Frontex könnten auf europäischer Ebene eigentlich Anlass für eine Deradikalisierung der Migrationspolitik sein. Auch auf britischer Seite bestätigen sie letztlich nur, was ohnehin bekannt ist: nämlich dass sich die irreguläre Einreisen in einem erwartbaren Rahmen bewegen, dabei zwar tendenziell anstiegen, innerhalb der Gesamtmigration in das Land aber nach wie vor nur einen kleinen Teil ausmachen.
In einem Europa, dessen normative, demokratische und rechtstaatliche Grundlage zunehmend in Frage gestellt wird, geschieht das Gegenteil: Inhumanität in der Migrationspolitik wird zum neuen Konsens auch in Teilen der liberalen Demokrarie und des progressiven Lagers. Auch die Londoner Regierung verschärft ihre Migrationspolitik demonstrativ. Aber dennoch erzielte die extreme Rechte bei den Kommunalwahlen Ende April verheerende Erfolge; sie marginalisierte die Tories und arbeitet nun auf die Übernahme der staatlichen Macht hin. Aus ihrer Perspektive bestätigen die aktuellen Frontex-Zahlen den Kontrollverlust und das Systemzerbrechen, die sie der Regierung ohnehin pauschal unterstellt. Dass die Kanalroute nun sozusagen den ersten Platz des Frontex-Rankings einnimmt, wird als willkommene Munition dienen.
Dies ist kein guter Kontext für die laufenden Neuverhandlungen des Grenzregimes zwischen Großbritannien und Frankreich einerseits und Großbritannien und der EU andererseits. Flankiert von weiteren zwischenstaatlichen Formaten, werden vor allem diese beiden Verhandlungsprozesse den Rahmen setzen, in dem sich die humanitäre Krise am Ärmelkanal in den kommenden Jahren darstellen wird.