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Channel crossings & UK

Rechts im Jungle

Britische Konservative und Rechtsextreme an den Schauplätzen der humanitären Krise in Nordfrankreich

Im Schatten guter Umfragewerte der Farrage-Partei Reform UK mobilisiert die konservative bis extreme Rechte im Vereinigten Königreich massiver denn je gegen Menschen, die per Schlauchboot die Grenze überqueren. Britische Hotels, in denen Geflüchtete untergebracht sind, sind Schauplatz rechter Protest-Events, aber neben den asylum hotels stehen auch die small boats im Zentrum der Mobilisierung. Desinformation und Drohungen sind ebenso gängig wie die Ankündigung von Massenabschiebungen nach dem Vorbild der rechtsextremen US-Regierung. Betroffene sind durch die Proteste vor ihrer Tür in einen Zustand ständiger Angst versetzt, berichtete jüngst BBC. Doch auch nordfranzösische Camps und Strände rücken stärker in den Fokus konservativer bis rechtsextremer Akteure, unter ihnen der Schatten-Innenminister der Tories. Hier drei Beispiele des rechten Aktivismus im Jungle von Loon-Plage und an anderen Orten der humanitären Dauerkrise.

„The Little Veteran“: Heimliche Filmaufnahmen und langatmige Videos

Im Juni 2024 reiste der Nigel Marcham, ein älterer rechter Medienaktivist alias The Little Veteran, nach Calais und drehte mehrere Videos. Sie zeigten, wie er ein Gelände erfolglos auf der Suche nach Camps durchstreift und an einem nächtlichen Strand ausharrt, um ablegende Boote zu filmen, aber lediglich ein Team der NGO Utopia 56 antrifft und in ein Gespräch verwickelt. Danach bat er um Spenden für eine weitere Reise (siehe hier).

Tweet von Nigel Marcham alias The Little Veteran mit Aufnahmen der distribution area im Jungle von Loon-Plage, 23. Juni 2025. (Quelle: X / Screenshot: Calais Border Monitoring)

Ein Jahr später kehrte The Litte Veteran nach Frankreich zurück: „Hi all / IM BACK / but not filming in the UK / For the next 11 days I’ll be filming in france if you like what I’m doing and like to support me my PayPal link below many thanks LV“, schrieb er am 22. Juni 2025 auf X. In den folgenden Tagen postete er mehrere Kurzvideos. Im Juli folgte dann das zweiteilige YouTube-Video my.11 day trip to France.

Videos von Nigel Marcham mit Aufnahmen eines Schlauchboots und des Jungle von Loon-Plage, Juni/Juli 2025. (Quelle: YouTube / Screenshot: Calais Border Monitoring)

Im ersten Teil des Films berichtet Marcham, dass es ihm zunächst gelang, ein Schlauchboot auf hoher See samt Begleitschiff der französischen Seeüberwachung zu filmen. Folgen wir seiner Darstellung, so fuhren er und sein Begleiter anschließend die Kanalküste bis Boulogne-sur-Mer ab, um weitere Videos zu drehen, allerdings mit wenig Erfolg. Am 23. Juni wandten sie sich dem Jungle von Loon-Plage zu, den sie zunächst zu Fuß auf einer öffentlichen Straße erkundeten, die quer durch das Gelände führt. Dabei, so beschreibt Marcham, habe er sich wie ein Linker verhalten, sich als Pressevertreter ausgegeben und heimlich mit einer Bodycam gefilmt. Tatsächlich enthält das Video heimlich aufgenommene Gespräche mit Geflüchteten, deren Gesichter nicht unkenntlich gemacht sind und denen Marcham sogar viel Glück wünscht. Außerdem suchte er die distibution area auf, wo lokale NGOs elementare Hilfen anbieten. Sich anbiedernd, verwickelte er die Mitarbeiterin eines medizinischen Teams in ein Gespräch.

Später, so erklärt Marcham, sei er mit offener Kamera umhergegangen, bis ein Mann ihm drastisch zu verstehen gegeben habe, dass dies unerwünscht sei; Marcham behauptet, er sei genötigt worden, Aufnahmen zu löschen; er habe den Wortwechsel zwar heimlich aufgenommen, doch sei kaum etwas zu verstehen und die Datei müsse nachbearbeitet werden. Es bleibt also dahingestellt, ob sich die Szene tatsächlich zugetragen hat, gleichwohl erscheint sie nicht unrealistisch. Aus dem Video geht hervor, dass Marcham darüber informiert war, dass der Jungle von Loon-Plage ein gewaltvoller Ort ist und dort mehrere Morde stattgefunden haben. Es ist gut denkbar, dass er mit dem offenen Filmen bewußt auf eine heikle Situation angelegt hat, um an entsprechende Aufnahmen zu gelangen.

Der zweite Teil von my.11 day trip to France zeigt Aufnahmen vom 29. Juni 2025. Zu sehen ist ein sogenanntes Taxiboot, das Passagier_innen aufnimmt, später dann französische Polizei an einem anderen Strand. Marcham behauptet, die Polizei unternehme nichts gegen die Bootspassagen und die Versprechen der britischen Regierungen der vergangenen Jahre zum Stoppen der Boote seien Lügen.

Die Videos des Little Veteran bedienen ein überschaubares Segment der antimigrantischen rechten Szene Großbritanniens. In ihrer Unprofessionalität und Langatmigkeit sind die Videos jedoch kaum kampagnentauglich. Doch sind die Teil einer Erschließung der nordfranzösischen Camps und Strände durch die britische Rechte, an der auch Chris Philp teilhat.

Chris Philp: Der Schatten-Innenminister, die Machete und die Sache mit dem Bus

Am 14. August veröffentlichte die britische Boulevardzeitung Express eine zweiseitige Story: Philp: Migrant pulled machete on me in Calais (Printausgabe). Der Artikel schildert eine Reise des britischen Tory-Abgeordneten Chris Philp und des Express-Reporters Zak Garner-Purkis nach Nordfrankreich (wenn auch nicht nach Calais).

Philp bekleidete bis zum Regierungswechsel im Juli 2024 das Amt eines Staatsministers im Innenministerium. Er profiliert sich seit Jahren als Verfechter einer besonders restriktiven Migrationspolitik und ist als Schatten-Innenminister der Tories momentan ein prominenter Opponent der Regierung in solchen Fragen. Wir können unterstellen, dass er vor diesem Hintergrund gut über das Migrationsgeschehen an der französischen Kanalküste informiert ist.

Philps Postings geben einen guten Eindruck der Tour. Die ersten Videos zeigen ihn und Garner-Purkis in der Nacht und am frühen Morgen am Canal de l’Aa und an einem Strand in Gravelines. Die aufgesuchten Orte sind tatsächlich Schauplätze des Migrationsgeschehens. Doch beobachteten die Beiden an diesem Tag nichts, womit auch nicht zu rechnen war, denn es war Ebbe und damit wegen der enormen Breite des Strandes ein ungeeigneter Zeitpunkt für Bootspassagen. Philps rügt die Abwesenheit der französischen Polizei und zeichnet auch in folgenden Videos das Bild einer zwar von Großbritannien finanzierten, in Wirkichkeit aber untätigen Ordnungsmacht.

Am selben Tag suchten Philp und Garner-Purkis den Jungle von Loon Plage auf, und anders als The Little Veteran betraten sie auch die eigentliche Zeltsiedlung: Philp spricht dort beispielsweise einen zufällig vorbeigehenden Mann an, der einen Plastiksack trägt, und erkundigt sich nach Rettungswesten. Ein andere Szene zeigt Philp bei den Zelten, als Garner-Purkis ihm etwas auf dem Smartphone zeigt und sagt: „I’ve had a guy walking behind us with a / behind us with a rather / long knife. We need to go“ (Untertitel des Videos), was beide dann auch tun.

Posting von Chris Philp, 13. August 2025. (Quelle: Instagram / Screenshot: Calais Border Monitoring)

Zu sehen ist der Mann mit dem Messer weder in dieser, noch in anderen Aufnahmen. Ein zugehöriges Video zeigt Philp und Garner-Purkis kurz nach dem Vorfall. Beide unterhalten sich auf der Straße, die den Jungle durchzieht, über das Geschehene. Das Messer wird nun erstmals als Machete bezeichnet, und der Reporter macht vor, wie es geschwungen worden sei. Etwas später fliegt ein Gegenstand aus einem Gebüsch in geringer Höhe in ihre Richtung, beide erschrecken und der Dreh wird beendet. Philp sprach später von Flaschen.

Dass das Filmen in Camps ungern gesehen ist und es durchaus zu Anfeindungen kommen kann, ist allgemein bekannt; der Migrationspolitiker und der Boulevard-Reporter waren nicht die ersten, denen so etwas wiederfuhr. Doch nutzten sie den Vorfall noch am selben Tag politisch und medial aus: Die Geschichte vom Machetenangriff auf den unbedarften Abgeordneten erfuhr große Aufmerksamkeit und der Rechtsaußen-Sender GBNews brachte ein Interview mit Philp als breaking news.

Philp stellte den Vorfall in den Mittelpunkt eines Zerrbildes der momentanen Situation an der nordfranzösischen Küste, das sich gut in die heißlaufenden Kampagnen britischer Rechter und Rechtsextremer einfügt: „What I found in France today is shocking / Launch beaches unpatrolled by French Police / We were attacked in a lawless migrant camp / We saw French Police facilitating illegal immigration by ushering migrants onto a bus towards their embarkation points / This is a borders crisis“, postete er am Ende seiner Tour und wiederholte danach mehrfach die bizarre Beschuldigung, die französische Polizei würde die Bootspassagen aktiv ermöglichen und Geflüchtete sogar mit öffentlichen Bussen zu den Ablegestellen der Boote geleiten.

Tweet von Chris Philp aus Gravelines, 13. August 2025. (Quelle: X / Screenshot: Calais Border Monitoring)

Tatsächlich zeigt ein als Beleg dienendes Video lediglich, wie mehrere Beamt_innen der Police nationale Geflüchtete, die möglicherweise wirklich zu einer Ablegestelle unterwegs sind, vor der offenen Tür eines Busses abschirmen. Eine größere Polizeipräsenz im öffentlichen Busverkehr entlang der Küste gehört seit einem knappen Jahr zu den französischen Maßnahmen, um die Bootspassagen einzudämmen. Philp hätte die Polizist_innen fragen können, aber nichts dergleichen ist auf seinem Video zu sehen.

An diesem Punkt erweist sich Philps Zerrbild als Desinformation, beglaubigt durch den Nimbus einer gefahrvollen Recherche vor Ort. Doch während sich der Schatten-Innenminister und The Little Veteran damit begnügten, suchte ein dritter Akteur aktiv die Konfrontation: Nick Tenconi.

Nick Tenconi und die Dynamiken der Radikalisierung

Tenconi, Anführer der rechtsextremen UK Independence Party (UKIP) und Funktionär des britischen Ablegers Turning Ponit USA, ist eine Schlüsselfigur der rassistischen Kundgebungen vor den Asylum hotels, die Rechtsextreme mit Konservativen und einem lokalen Wut- und Protestmilieu verbinden. Wie bereits bei den Ausschreitungen im August 2024, werden Einzelfälle physischer oder sexueller Gewalt systematisch pauschalisiert und mit den small boats verknüpft. Tenconi erweckt den Eindruck einer Invasion krimineller Männer mit islamistischem Hintergrund.

Dabei inszeniert er sich als unermüdlicher Protestredner, ordnet sich der Neuen Rechten zu und bezieht sich wie wie US-amerikanische MAGA-Bewegung auf einen radikalen christlichen Nationalismus, was es ihm ermöglicht, offene Hetze religiös zu überhöhen. In seinen Videos propagiert er eine endzeitliche Ideologie vom bevorstehenden Untergang einer westlich-britisch-christlichen Zivilisation, der nur noch durch Massendeportationen nach der Machtübernahme der Rechten verhindert werden könne. Bis dahin bestehe die einzige Mögichkeit darin, die Geflüchteten vor den Hotels und möglichst bereits vor der Überquerung des Ärmelkanals zu stoppen.

Mobilisierung Tenconis zu einer Kundgebung in Liverpool als Teil der Kampagne Mass-Deportations March, August 2025. (Quelle: X / Screenshot: Calais Border Monitoring)

Tenconi mobilisiert zu den dezentralen Kundgebungen gegen die Hotels unter dem Motto Mass-Deportations March. Doch Massendeportationen im Umfang von mehr als einer halben Million Menschen propagiert zur selben Zeit auch Nigel Farrage, der seine Partei Reform UK jedoch von extremeren Parteien wie UKIP abgrenzt, um als regierungsfähig angesehen zu werden. So beobachten wir ein gegenseitiges Überbieten der Rechtsparteien einschließlich der Tories, das sich erkennbar an den illegalen Methoden der Trump-Regierung orientiert und in letzter Konsequenz auf ein Staatsverbrechen hinausläuft.

Im Zuge dieser Dynamiken geraten Akteure wie Tenconi unter Zugzwang, eine immer extremere Agenda zu formulieren. Setzte Farrage am 26. August die Zahl von 600.000 Abschiebungen in die Welt, postete Tenconi zwei Tage später: „Mass-deportations. Millions must go.“ Bereits früher hatte er verlangt, neben Geflüchteten auch „communists“ zu deportieren, womit er Staatsbürger_innen meinte, die sich zivilgesellschaftlich für Geflüchtete einsetzen. In seiner Ideologie zerstören sie unter dem Schutz der Liberalen in Zusammenarbeit mit Islamisten die britische Zivilisation durch Migration.

Posting von Nick Tenconi. (Quelle: Instagram / Screenshot: Calais Border Monitoring)

Vor dem Start der Mass-Deporatations-Kampagne war Tenconi mit einer Gruppe Gleichgesinnter in Calais. Dort provozierte er am 4. Juni 2025 an einer Verteilungsstelle für Hilfsgüter, filmte und bedrohte Geflüchtete, ächtete Mitarbeiter_innen von NGOs als „communists“ und produzierte später in Gravelines weitere Videos, mied jedoch den Jungle von Loon-Plage. Das Auftritt in Calais war erkennbar auf Konfrontation angelegt, doch reagierten die Betroffenen besonnen.

Nach seiner Rückkehr startete Tenconi eine Spendenkampagne, um 50.000 Pfund für eine UKIP’s Border Protecting Mission einzusammeln, die auf der Website der Partei an prominenter Stelle beworben wird. Aus dem Spendenaufruf geht hervor, dass UKIP eine „Präsenz“ in Frankreich anstrebt, um das Ablegen von Booten zu verhindern und Schleuser zu „konfrontieren“. Suggeriert wird dabei, es bestünde eine Zusammenarbeit mit der französischen Polizei (siehe ausführlich hier). Bislang verzeichnet das in den USA ansässige und der radikalen christlichen Rechten zuzuordnende Crowdfunding-Portal GiveSendGo jedoch lediglich den Eingang von knapp 17.000 Pfund (Stand: 27. August).

Mitglieder der Partei können sich auf einem Kontaktformular für ein Border Protection Team anmelden, auf dem neben den persönlichen Daten auch nach Vorstrafen gefragt wird, die jedoch kein Hindernis für eine Teilnahme darstellen: „Please note: any record does not preclude you, the teamjust needs to be aware.“ Die Werbung für ein Stoppen der Boote in Nordfrankreich begleitete die Kampagne vor den Hotels und nahm mitunter martialische Formen an:

Werbung von UKIP bzw. Nick Tenconi für Aktionen in Nordfrankreich, Juli 2025. (Quelle: X / Screenshots: Calais Border Monitoring)

Es ist gut vorstellbar, dass die Kampagne letztlich finanzielle Ziele verfolgt, denn die aufgerufene Summe von 50.000 Pfund erscheint angesichts der bisherigen Aktivitäten in Nordfrankreich maßlos überzogen. Gleichzeitig hat sich Tenconi durch das Gerede von Nordfrankreich als Schauplatz des letzten verbleibenden Kampfes gegen den imaginierten Untergang unter starken Zugzwang gesetzt. Es ist also damit zu rechnen, dass er dort erneut provozieren wird. Ob es am Ende mehr sein wird als eine neuerliche Pöbelei, bleibt dahingestellt.

Dennoch ein Nebenschauplatz

Die drei Beispiele dokumentieren ein verstärktes Interesse konservativer und rechtsextremer britischer Akteure daran, nordfranzösische Camps und Stände aktiv aufzusuchen und medial vorzuführen. Bislang bleiben solche Aktionen punktuell und dürften dies auch bleiben, denn die eigentliche Stoßrichtung der Mobilisierungen ist innen- und hegemonmiepolitisch: Es geht um die Destabilisierung der liberalen und menschenrechtlich verpflichteten Demokratie und die Schaffung günstiger Voraussetzungen für eine Übernahme und einen Umbau der staatlichen Macht. Nordfrankreich ist letztlich also ein Nebenschauplatz.

Dessen ungeachtet verstärken auch sporadische Aktionen die latenten Ängste, Spannungen und Unsicherheiten in den Camps und markieren humanitäre Helfer_innen als Ziele möglicher Kampagnen und Anfeindungen. Die Reisen britischer Rechter nach Nordfrankreich sollten daher weder über-, noch unterschätzt werden.