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Channel crossings & UK

Im Blick des transatlantischen Faschismus

Tweet des Organisators der rechtsextremen Großkundgebung in London, 15. September 2025. (Quelle: Tommy Robinson / X; Screenshot: Calais Border Monitoring)

Die Londoner Innenstadt wurde am 12. September 2025 zur Bühne einer der größen Massenkundgebungen der britischen Geschichte. Sie war Ausdruck rechtsextremer Umsturzfantasien, die sich der Migrationsthematik bedienten, um eine britische Spielart der US-amerikanischen MAGA-Bewegung zu etablieren. Überlagert und verstärkt wurde der Effekt durch den Rummel, den die Trump-affine Rechte nach der Ermordung des amerikanischen Aktivisten Charles Kirk am 10. September entfachte. Innerhalb dieser Ereignisfolge spielt die Forderung nach einem Stoppen der Bootspassagen im Ärmelkanal nicht unbedingt eine zentrale, aber dennoch eine verbindende Rolle. Genau dies integriert sie in die Agenda einer transatlantischen Bewegung gegen die Demokratie.

„Unite the Kingdom“: Großkundgebung nach MAGA-Vorbild

Die Londoner Großkundgebung mit mindestens 110.000 Teilnehmer_innen bildete den Höhepunkt einer Kampagne unter dem Motto Unite the Kingdom. Sie war jedoch nicht nur eine Demonstration, sondern wurde von ihrem Organisator Stephen Yaxley-Lennon alias Tommy Robinson zugleich als „Festival of Free Speech“ beworben.

In bemerkenswerter Zahl anwesend waren Führungskräfte rechtspopulistischer, rechtsextremer bzw. rechtslibertärer Gruppierungen aus Europa, den USA und Kanada, darunter beispielsweise der frühere französische Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour mit einer Neuauflage des Mythos vom Bevölkerungsaustausch. Die Ankündigung eines Beitrags des früheren Trump-Strategen Steve Bannon und ein per Videocall geführtes Gespräch Robinsons mit Elon Musk unterstrichen den Vorbildcharakter der US-amerikanischen MAGA-Bewegung. Nicht als Redner vertreten war die momentan erfolgreichste Figur der äußersten britischen Rechten, Reform UK-Chef Nigel Farrage. Ein siebenstündiges und weitgehend ungeschnittenes Video der Organisator_innen zeigt jedoch auch, dass das Bühnenprogramm nicht durchgängig rechter Prominenz war; über längere Strecken hinweg zeigt es B-Promis und teils birarre Darbietungen.

In der medialen Berichterstattung überwog die Auffsassung, es habe sich vor allem um eine Massenkundgebung gegen Migration gehandelt. In der Tat durchzogen antimigrantische Statements den Tag und zahlreiche Transparente und Fahnen waren mit Stop the boats und Send them home beschriftet. Beide Parolen sind bereits von den Kundgebungen und Ausschreitungen gegen Hotels bekannt, in denen auf der Kanalroute eingereiste Geflüchtete untergebracht sind. Einer der Redner, der frühere stellvertretende Vorsitzende von Reform UK und heutige Chef der Splitterportei Advance UK, Ben Habib, hatte im Frühjahr in einem Interview vorgeschlagen, die Menschen auf der Kanalroute dem Ertrinken zu überlassen.

Gleichwohl erschöpfte sich die Mobilisierung nicht im antimigrantischen Ressentiment. Und vieles spricht dafür, dass die small boats weder Anlass noch Kern des Events waren. Die Parole gegen die Boote dürfte eher eine Art Minimalkonsens gebildet haben, auf dem sich die angestrebte Selbstvergewisserung und Selbstermächtigung der Rechten entfalten sollte. In der Hauptsache zielt dies auf eine Diskreditierung der Labour-Regierung und eine Machtübernahme durch die extreme Rechte mit anschließendem Staatsumbau von oben, verbunden mit Unterdrückungs-, Unterwerfungs- und Vertreibungsfantasien gegen progressive Kräfte: eine „new Englisch revolution“.

Die ungewöhnlich hohe Zahl der Demonstrant_innen und das weltweite mediale Echo, aber auch die wiederholten Huldigungen des ermordeten Kirk, wurden in rechten Online-Medien und Social Media-Accounts in genau diesem Sinne gefeiert. Eine zentrale Rolle spielten dabei Verschwörungserzählungen über die angeblichen Zensur der freien Rede durch die Regierung, linke und progressive Kräfte und die Qualitätsmedien, namentlich die BBC. Auch mit dieser Stoßrichtung schlossen die Organisator_innen an das US-amerikanische Vorbild an.

Reposting eines Tweets von Tommy Robinson durch Elon Musk nach der „Unite the Kingdom“-Kundgebung in London. (Quelle: Elon Musk / X; Screenshot: Calais Border Monitoring)

Sehr deutlich wird dies im prominentesten Beitrag des Tages: dem Gespräch Robinsons mit dem live zugeschalteten Elon Musk.

Dieser behauptete: „What I see happening is a destruction of britain“, und bezog sich im Folgenden auf das Narrativ der britischen Rechten, illegal eingewanderte bzw. mit Schlauchbooten eingereiste Migranten würden massenhaft britische Staatsbürger_innen vergewaltigen und ermorden, wogegen der Staat nichts unternähme. Er verstieg sich zu der Behauttung die politische Linke würde gezielt Migranten importieren, um Wählerstimmen zu gewinnen. Musk spitzte seine Argumentation die Regierung zu, deren Neuwahl er forderte, sowie gegen die BBC und die sogenannte „linke Ideologie“ zu, die er kollektiv für Kirks Tod in Haftung nahm: „The left is the party of murder“. Er rief zur Agitation der politischen Mitte auf und riet zur Verbreitung von Ängsten und rechtfertigte explizit Gewalt: „If the fight comes to you, you don’t have a choice, […] you need zu fight back or you die“.

Die vielleicht zentrale Aussage war, dass nur noch sehr wenige Jahre der Entscheidung darüber verbleiben würden, ob die Zivilisation eine Ära der „greatness or darkness“ entgegen gehe. Offensichtlich möchte Musk, der zu Jahresbeginn sein Investment in die Partei Farrages angekündigt hatte und nun offenbar auch deren innerrechte Konkurrenz beehrt, mit dem Umsturz in Großbritannien nicht bis zum Ende der Amtszeit Keir Starmers warten.

Es ist wichtig, sich diese Denk- und Redeweise vor Augen zu führen, denn sie verdeutlicht, dass die Boote im Ärmelkanal vor allem eine symbolische Funktion erfüllen: Sie sind Chiffren der „revolutionär“ zu überwindenden Ordnung. Die sich abzeichnende Rekordzahl an Bootspassagen im laufenden Jahr oder das absehbare Verpuffen der Gegenmaßnahmen der Londoner Regierung lassen sich gut in solche Narrative einbauen, sind aber letztlich zweitrangige Themen. Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass small boats und asylum hotels als Symbolorte, Aktionsbühnen und Angriffsziele einer transatlantisch gedachten MAGA-Bewegung wertlos wären. Das Gegenteil ist der Fall und wir konnten in diesem Sommer eine zumindest punktuelle Ausweitung dieses Aktivismus auf Calais beobachten (siehe ausführlich hier und hier).

Turning Point UK und der Mord an Charles Kirk

Vieles spricht dafür, dass der Mord an Charles Kirk eine wichtige mobilisierende, emotionalisierende und auch radikalisierende Bedeutung für den Erfolg der Londoner Großkundgebung hatte. Aber der Mord zeigte auch, dass zwischen der US-amerikanischen MAGA-Bewegung und den britischen Akteuren enge ideologische, persönliche und organisatorische Verbindungen bestehen.

Charles Kirk leitete bekanntlich die von ihm gegründete Organisation Turning Point USA, die an amerikanischen Schulen und Hochschulen für die als Konservatismus firmierende Ideologie der MAGA-Bewegung wirbt und systematisch Druck auf deren politische Gegner_innen und intellektuelle Kritiker_innen erzeugte. Nach diesem Vorbild entstand in Großbritannien Turning Point UK, an dessen Spitze momentan Jack Ross und Nick Tenconi, zugleich Chef der rechtsextremen UK Independence Party (UKIP), stehen.

Posting von Nick Tenconi mit dem Bild des ermordeten Charles Kirk und dem Kommentar „This is war“, 10. September 2025. (Quelle: Nick Tenconi / X; Screenshot: Calais Border Monitoring)

Tenconi inszenierte sich im Juni 2025 durch einen krawalligen Auftritt an einer Verteilungsstelle für Hilfsgüter in Calais, kündigte weitere Aktivitäten in Nordfrankreich an und verband dies mit der Forderung nach Massendeportationen, auch von humanitär und zivilgesellschaftliche Engagierten, die er durchgängig als „communists“ bezeichnet. Turning Point UK verkauft neben „Make Britain Great Again“-Kappen diverse Sticker mit Bezug auf die Kanalroute und die erhofften Deportationen. Typisch ist dabei eine am amerikanischen Vorbild orientierte Überhöhung der Agitation durch Versatzstücke der christlichen Religion.

Der Tod Kirks war nicht nur der Anlass einer massiven Einschüchterung nicht-rechter Positionen in den USA, die in totalitärer Manier zum Feind erklärt werden, sondern radikalisierte auch Turning Point UK. Schon bald nach dem Attentat zirkulierte in rechten Medien die Aussage, die britische Organisation werte den Mord als „declaration of war“. Kurz nach dem Attentat postete Tenconi Passagen einer Rede, die er zu Kirks Ehren in London gehalten hatte. Auch er sprach von „war“ und rief er seinen Anhänger_innen zu: „Each and everyone of you should be radicalized“. In anderen Postings nahhte er Kirk „a christian martyr“. Diese Sakralisierung vollzog sich synchron mit derjenigen in den USA, und auch die dort einsetzende Online-Jagd auf Menschen, die in den Sozialen Medien den Mord rechtfertigt oder sich auch nur in irgendeiner Weise kritisch zu Kirk und seiner Ideologie geäußert hatten, wurde rasch imitiert. Turning Point UK mobilisiert seither zu einer Vielzahl weiterer Kundgebungen zu Ehren Kirks.

Aus solcher Sicht fehlt mit Kirk nun ein wichtiger Verbündeter beim erhofften Aufbau einer transatlantischen Achse der extremen Rechten, um gemeinsam die liberalgemokratische Ordnung Europas aufbrechen zu können. Online-Medien der britischen Rechten hoben diese Bedeutung Kirks explizit hervor und verwiesen auf eine Folge von Kirks Show zum Thema „The Death of Britain“, die dieser am Vortag seines Todes noch einmal auf X gepostet hatte, sodass sie wie ein politisches Vermächtnis edargestellt werden konnte. In diesem Kontext zeigten sich Robinson, Tenconi und Ross gleichermaßen bemüht, ihre engen Bindungen an Kirk zu unterstreichen, während Robinson zusätzlich seine Unterstützung durch Musk ausspielen konnte.

Charles Kirk und Tommy Robinson in einem Beitrag des rechten Podcasts Dan Wootton Outspoken nach dem Attentat vom 10. September 2025. (Quelle: Dan Wootton Outspoken; Screenshot: Calais Border Monitoring)

Rechtsextreme Interventionen mit Bezug auf die Kanalroute dürften zunehmen, und sie werden voraussichtlich aggressiver ausfallen. Gleichzeitig könnten die demokratischen Akteure sich genötigt sehen, noch restriktivere Maßnahmen zur Migrationsbegrenzung zu ergreifen.

Der Erfolg der Londoner Großveranstaltung und die Reaktionen auf den Mord an Kirk werden die Agitation gegen Camps, Boote und Unterkünfte aggessiver werden lassen. Sie werden den Überbietungswettbewerb der britischen Rechtsparteien in Sachen Massendeportation, Remigration und Ertrinkenlassen weiter enthemmen und die demokratische Regierung vermutlich dazu nötigen, ihre Handlungsmacht durch weitere Verschärfungen der Migrationspolitik zu unterstreichen. Die entscheidende Veränderung liegt jedoch im Sichtbarwerden eines neuen Akteurs: des transatlantischen Faschismus.