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Verdacht der fahrlässigen Tötung durch die Polizei

Rekonstruktion des Todesfalls durch Disclose in Zusammenarbeit mit Index und Linimal, Juli 2025. (Quelle: Disclose)

Im März 2024 ertrank Jumaa Al-Hasan in einer Wasserstraße im Hinterland des Ärmalkanals. Bereits frühzeitig gab es Hinweise auf eine mögliche Mitschuld der Polizei am Tod des 27jährigen Syrers (siehe hier und hier). Nach Rechechen des französischen Investigativmediums Disclose auf der Basis einer digitalen Modellierung des Geschehens leitete die Staatsanwaltschaft Dunkerque eine Voruntersuchungen gegen die Polizei ein.

Der Todesfall ereignete sich in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2024 im Canal de l’Aa in der Ortschaft Gravelines, die zwischen Calais und Dunkerque liegt. Der Kanal mündet einige Kilometer weiter nördlich ins Meer und wurde damals vermehrt von sogenannten Taxibooten genutzt.

Die Recherche von Maïa Courtois, Maël Galisson und Simon Mauvieux entstand in Zusammenarbeit mit der NGO Index und dem Forschergruppe Liminal. Im Mittelpunkt steht eine 3D-Rekonstruktion des Geschehens auf der Grundlage von sieben Zeugen sowie von Tonaufnahmen und behördlichen Dokumenten.

Demnach bewegte sich das Boot in Gravelines kanalabwärts, bevor es eine Gruppe von Geflüchteten an Bord nahm. An der Uferböschung versuchten vier Polizisten vergeblich, ebenso viele Exilierte am Besteigen des Boots zu hindern. Ein fünfter Geflüchteter, Jumaa Al-Hasan, blieb am Ufer zurück und versteckte sich dort. „Jumaa ist ins Wasser gesprungen, als die Polizisten auf ihn losgingen und ihn mit Tränengas besprühten“, zitiert Disclose einen Zeugen, der sich auf dem Boot befand. Ein anderer erklärte: „Er ist sofort untergegangen“. Der Einsatz des chemischen Kampfstoffs sei nach übereinstimmender Aussage mehrerer Zeugen sehr massiv gewesen; „sie hätten Verbrennungen in den Augen und im Hals verspürt“, so Disclose.

Dieses Vorgehen der Polizei habe, die das Ergebnis der aufwändigen Rekonstuktion, Jumaas Tod verursacht. Drei der Zeugen äußerten sich gegenüber Disclose überzeugt, dass sein Ertrinken der Polizei nicht entgangen sein konnte: „Sie haben so getan, als hätten sie ihn nicht gesehen, obwohl sie ihn gerade mit Gas besprüht hatten“, sagte einer von ihnen. Darüber hinaus weist der Bericht Nachlässigkeiten bei der folgenden Suche nach dem Vermissten nach. Schließlich wurde Jumaas Leiche nach 16 Tagen zufällig am Ufer des Canal de l’Aa entdeckt.

Die Recherche verdeutlicht, dass der massive Einsatz von CS-Gas in vergleichbaren Situationen kein Einzelfall war. Ein am 25. März 2024 ebenfalls am Canal de l’Aa aufgenommenes Video zeigt, wie Polizisten gezielt CS-Gas auf Geflüchtete sprühen; einige befinden sich in einem Schlauchboot in Ufernähe, zwei weitere im Wasser.

Einen Tag nach dem Leichenfund leitete die Staatsanwaltschaft von Dunkerque Todesfallermittlungen ein. Später übergab sie die Ermittlungen an die Juridiction interrégionale spécialisée (JIRS) in Lille, eine auf die Bekämpfung von Schleusungen spezialisierte Behörde. Währenddessen drang Jamaas in Großbritannien lebender Onkel auf eine Aufklärung der Todesumstände. Bei den in Lille anhängigen Ermittlungen ist er Nebenkläger. Sein Anwalt Antoine Chaudey erklärte gegenüber Disclose, dass sich in den Akten keine Hinweise auf eine mögliche Verantwortung der Polizei fanden, auch sei keiner der in der Nacht anwesenden Polizisten befragt worden.

Zeitgleich zur Veröffentlichung der Disclose-Recherche am 8. Juli 2025 kündigte Utopia 56 die Einreichung einer Klage gegen Unbekannt wegen fahrlässiger Tötung an. „Auch wenn es keinen Grund gibt, die Arbeit der Ermittler in Frage zu stellen, scheint es, dass in diesem Fall ein toter Winkel besteht“ so die NGO: „Das ist es, was die journalistische Untersuchung […] enthüllt und was die Klage von Utopia 56 fordert: Licht in die Verantwortlichkeiten der Ordnungskräfte zu bringen. Warum haben sie Gas eingesetzt, obwohl die Situation am Ort gefährlich war, warum haben sie Jumaa nicht gerettet?“

Der Fall wurden von überregionalen französischen Medien aufgegriffen. Le Monde meldet am 12. Juli, dass die Staatsanwaltschaft von Dunkerque inzwischen eine Voruntersuchung weger fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung eingeleitet und die Inspection générale de la police nationale, also die für polizeiinterne Ermittlungen zuständige Generalinspektion der Nationalpolizei, eingeschaltet habe. Auslöser war offenbar die Klage von Utopia 56.

Die Autor_innen der Recherche stellen den Fall in den Kontext einer verschärften Politik der Regierungen in Paris und London gegen die Bootspassagen, die sich auf der Ebene der Einsatzkräfte in rücksichtsloseren Handlungen ausgewirkt haben könnte. In der Tat häuften sich im Winter und Frühjahr 2024 Meldungen über zunehmende Gewalt bei der Verhinderung von Bootspassagen.