Teil 2: Reform UK und Restore Britain: Von „Mass Deportations“ zur „Deportation NATO“

Die Verheißung von Massendeportationen und Razzien im Stile der US-Behörde ICE ist zu einem Bindeglied konservativer und rechtsextremer Akteure in Großbritannien geworden. Im ersten Teil dieser Serie behandelten wir die migrationspolitische Apokalyptik Donald Trumps und das Einschwenken der britischen Tories auf diese Linie. Dies zeigte sich im Borders Plan der Partei vom 5. Oktober 2025, der die Deportation von 750.000 Menschen vorsieht (siehe hier). Im zweiten Teil beschäftigen wir uns mit der Farage-Partei Reform UK und der neu gegründeten Organisation Restore Britain, die den bislang umfassendsten und extremsten Masterplan für Massendeportationen vorgelegt hat. Bis zu 2 Millionen Menschen sollen im Fall einer rechten Machtübernahme aus dem Vereinigten Königreich vertrieben und eine „Deportation NATO“ geschaffen werden.
Reform UK: Verschwörungserzählung und Point of no return

Die Partei unter der Leitung Nigel Farages profitierte bereits vor der zweiten Amtszeit Donald Trumps stark von der politischen und finanziellen Unterstützung durch die konservative und extreme US-Rechte. Angesichts guter Umfragewerte, die sich nach erdrutschartigen Wahlerfolgen auf kommunaler Ebene im Laufe des Sommers auf hohem Niveau stabilisierten, inszeniert sich Farage selbstbewusst als nächster britischer Premierminister. Um dieses Momentum nutzen zu können, setzt die transatlantische extreme Rechte auf baldige Neuwahlen und verfolgt eine Strategie der Destabilisierung, die der hybriden Kriegsführung der russischen Regierung gegen die europäischen Demokratien nicht unähnlich ist. Vor diesem Hintergrund wird ein Zerrbild der Migration erzeugt, und zwar vor allem anhand zweier Symbole, die bereits von den früheren Tory-Regierungen skandalisiert worden waren: small boats und asylum hotels. Die betroffenen Menschen erfahren eine Entmenschlichung: Zu „Invasoren“, „Islamisten“ und „Kriminellen“ stilisiert, werden sie als Feind markiert – und als vorrangiges (aber nicht einziges) Opfer künftiger Massendeportationen benannt.
Seit den kommunalen Wahlerfolgen Ende April nutzt Farage verstärkt eine Verschwörungserzählung, die die demografische Struktur der Migration militärisch deutet: Der überproportionale Anteil junger bzw. erwachsener Männer unter den in der EU bzw. Großbritannien ankommenden Geflüchteten wird zum verdeckten Einschleusen einer potenziellen Armee. Britische Medien zitieren Farage Anfang Mai mit der Aussage, die Regierung erlaube „undocumented young males of fighting age, to come in to Britain in unprecedented numbers“.
Welche Radikalisierung dieses Narrativ in kurzer Zeit erfuhr, verdeutlicht die Rezeption eines Beitrags des migrationsfeindlichen Projekts Migration Watch UK im September 2025. Dort war eine ebenso simple wie bizarre Berechnung vorgestellt worden: „The number of small boat migrants intercepted crossing the Channel since 2018 (182,188) now outnumbers the entire active and reserve strength of the British armed forces (180,779 as of January 2025)“, so Migration Watch UK. Der zitierte Text enthält eine Ehrung des am 10. September ermordeten US-amerikanischen Rechtsextremisten Charles Kirk und verweist auftrumpfend auf die Rezeption der Zahlen durch britische Boulevardzeitungen, rechte Alternativmedien sowie Nigel Farage und seine Partei. Farage schrieb in einem Tweet vom 11. September: „There are now more Channel migrants in the UK than we have active military personnel. This is a national security emergency, and I have said so for years.“

Die Behauptung, bei den Bootspassagen des Ärmelkanals handle es sich in Wirklichkeit um die verdeckte Invasion einer feindlichen (und zwar islamistischen) Armee, spielte in der rechtsextremen Mobilisierung der vergangenen Monate eine tragende Rolle. So griff etwa UKIP dieses Narrativ bei seien Aktionen gegen Geflüchtete in Nordfrankreich auf (siehe hier und hier).
Gleichzeitig erzeugt dies einen point of no return: Denn werden die Geflüchteten als feindliche Kämpfer wahrgenommen, die jederzeit losschlagen könnten, erscheint die Gewalt gegen sie von vornherein als legitim, ja sogar als notwendig. Migration wird aus der Sphäre des Sozialen und Politischen herausgelöst. Werden aber aus Migranten Feinde und aus der Migration Krieg, ist dem Staatsverbrechen als Akt angeblicher Notwehr der Boden bereitet – und einer demokratischen Aushandlung der Boden entzogen. An die Stelle von Migrationspolitik treten Feindbestimmung und Feindbekämpfung. So unterschiedlichen Akteuren wie der amtierenden Regierung, der Justiz, der BBC, humanitären NGOs, linken Aktivist_innen und der liberalen Mitte wird unterstellt, den vermeintlichen Angriff nicht zu verhindern oder sogar aktiv zu unterstützen. Aus ihnen werden Hochverräter_innen, was den faschistischen Kern dieser Agitation deutlich hervortreten lässt.
„Operation Restoring Justice“: Massenabschiebungen statt Menschenrechte
Vor diesem Hintergrund stellte Farage seine Pläne für Massendeportationen auf einer Pressekonferenz am 26. August 2025 vor. Ausformuliert ist es in einem 6seitigen Dokument mit dem Titel Operation Restoring Justice – Our Plan to deport all illegal migrants in the UK, and secure our borders.

Das recht knappe Papier benennt drei Ziele im Fall einer Machtübergabe an Farage: 1. den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. die Ersetzung des britischen Menschenrechtsgesetzes (Human Rights Act) durch eine „British Bill of Rights“ sowie 3. die Verabschiedung eines „Illegal Migration (Mass Deportation) Bill“, also eines Massendeportationsgesetzes.
Dieses Gesetz würde auf die Schaffung eines Ausnahmezustands für die Dauer der Legislatur unter Premier Farage hinauslaufen: Zusätzlich zum Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Abschaffung des Menschenrechtsgesetzes sollen die Genfer Flüchtlingskonvention, die Antifolterkonvention der UN und die Konvention des Europarats gegen Menschenhandel außer Kraft setzen, und zwar, weil „activist judges“ diese Schutznormen nutzen könnten, um Abschiebungen zu erschweren. Weiterhin soll das Gesetz die Betroffenen grundsätzlich von einem Asylverfahren in Großbritannien ausschließen und ihre Inhaftierung bis zur Abschiebung festschreiben, wofür weitere rechtliche Normen ausgehebelt werden sollen. Die Wiedereinreise nach einer Abschiebung und die Zerstörung der Identitätspapiere sollen kriminalisiert und mit einer Haftstrafe von bis zu 5 Jahren geahndet werden.
Das Papier enthält außerdem einen Operational Plan: An erster Stelle steht die Schaffung eines „UK Deportation Command“ mit einem zugehörigen „Illegal Migrant Identification Center“. Der automatisierte Abgleich der Daten diverser Behörden einschließlich des Nationalen Gesundheitsdienstes sowie biometrische Verfahren sollen es der imaginären Superbehörde ermöglichen, „to relentlessley identiy and detain all illegal migrants in the UK“. Flankierend will ein Premierminister Farage in ersten anderthalb Jahren seiner Amtszeit Haftstätten („Secure Immigration Removal Centres“) mit einer Kapazität für 24.000 Abschiebungen pro Monat aufbauen. Bevor großangelegte Razzien („large-scale raids“) beginnen, sollen Migrant_innen während eines sechsmonatigen Zeitfensters („Initial Voluntary Return Window“) durch finanzielle Anreize und eine App zur Selbstabschiebung („self-deport“) bewegt werden. Zur Logistik der Abschiebungen führt der Plan aus: „The Home Office will scale up charters to 5 flights per day. To guard against last-minute aircraft unserviceability, the RAF will keep one Voyager aircraft on six-hour ‚hot-spare‘ readiness. If a commercial charter breaks down, detainees can still be flown out that night, preserving operational integrity. The legal reset will mean activist lawyers will no longer be able prevent flights from departing.“ Last not least verspricht Reform UK den reibungslosen Abschluss von „deals“ mit Drittstaaten und als Ausweichmöglichkeit, wie in rechten Kreisen seit Längerem kolportiert, die Verbringung auf einen der entlegensten Orte des ehemaligen Empire: „Ascension Island’s isolated airfield can handle A330 aircraft, enable rapid transfer of Channel arrivals.“ All dies schaffe „ultimate deterrent“ und „total control“ über die Grenzen.
Der Farage-Plan ähnelt der gescheiterten Gesetzgebung, mit der die Tory-Regierungen bis 2024 ihren Ruanda-Plan legalisieren wollten. Drastischer ausbuchstabiert ist er jedoch in der Verachtung menschenrechtlicher Normen einschließlich der eigenen Justiz und vor allem in der versprochenen Zahl der Abschiebungen: Farage nannte bei der Vorstellung des Plans die Zahl 600.000, also etwa das Dreifache der seit 2018 auf der Kanalroute eingereisten Menschen und ein Vielfaches der momentanen britischen Abschiebepraxis.
Zum Vergleich: In der ersten Jahreshälfte 2025 zählte die britische Regierung 9.072 zwangsweise Rückführungen. 10.652 Rückführungen (zwangsweise wie freiwillige) standen im Zusammenhang mit Asylverfahren und 2.330 im Zusammenhang mit den small boats. Die von Farage genannte Größenordnung setzt daher zwingend einen Umbau sowohl des Rechts als auch der Institutionen voraus, wofür ICE das offenkundige Vorbild ist. Dramatisch
– auch für die Zukunft der Demokratie – ist dabei, dass der Borders Plan der Tories vom Oktober eine wiederum radikalisierte Variante des Farage-Plans von August darstellt, in der auch die Zahl der imaginären Abschiebungen noch einmal angehoben ist, und zwar auf 750.000 Menschen.
Die von den Tories und Reform UK in den Raum gestellten Größenordnungen bewegen sich im Rahmen von Schätzungen zur Zahl der unautorisiert in Großbritannien lebenden Migrant_innen, die wahrheitswidrig mit den small boats in eins gesetzt werden. Dahinter steht in beiden Fällen die reaktionäre Utopien einer nationalen Wiedergeburt in einer globalisierten Welt ohne Migration außer der aktiv herbeigeführten.
Restore Britain: Pressure group mit Potenzial zum Overkill
Die bislang hier besprochenen Pläne der Tories und Farages für Massendeportationen sind – ungeachtet ihrer zur Schau gestellten Brutalität – kaum mehr als magere Entwürfe. Belastbare Angaben zu Umsetzbarkeit, Rechtsrahmen, Infrastrukturen, Finanzierung und gesellschaftlicher Akzeptanz fehlen ganz oder bleiben oberflächlich. Kritiker_innen weisen zurecht auf ihre Realitätsferne hin. Genau dieses Manko behauptet ein weiterer Akteur zu beheben: Restore Britain mit dem Papier Mass Deportations – Legitimacy, Legality, and Logistics des parteilosen Unterhaus-Abgeordneten Rupert Lowe und des rechten Journalisten und Schriftstellers Harrison Pitt, vorgelegt am 9. Oktober 2025.

Der Multimillionär und frühere Reform UK-Politiker Lowe gründete Restore Britain Ende Juli 2025 mit einem starken Fokus auf Massenabschiebungen, die seiner Meinung nach von Farage nicht radikal genug angegangen würden. Restore Britain ist als eine Mischung von Bewegung, Pressure group und Thinktank konzipiert ähnelt in seiner Ideologie und Vorgehensweise anderen Akteuren der transatlantischen extremen Rechten mit dem Anspruch, eine Machtübernahme vorzubereiten: „2029 is the ultimate objective, but that does not mean we cannot effect real and positive change in the next four years. If we don’t, there won’t be a Britain to restore“, stellt Lowe seine Organisation vor. Die Organisation ist Bestandteil des schwer durchschaubaren Netzwerks neurechter Thinktanks, die in der britischen Öffentlichkeit wegen einer gemeinsamen Londoner Adresse als Tufton Street bekannt sind und zu dem unter anderem auch Migration Watch UK zählt. Für zahlreiche Veröffentlichungen, die häufig als Strategiepapiere oder Vorlagen für politische Entscheidungsprozesse angelegt sind, dient das Netzwerk als Zitierkartell.
Das Mass Deportations-Papier stellt auf 113 Seiten die Modalitäten einer Fortschaffung sämtlicher „illegaler“ Migrant_innen vor, die in Lowes Vorwort als „invadors“ gebrandmarkt werden. Dort wird auch deutlich, dass die Massendeportationen als Hebel für einen schrittweisen Systemumbau gesehen werden: „Throughout our paper, we fill in the details on every aspect of what a successful mass deportation agenda must look like. It would involve effectively abolishing the asylum system. It would mean working to remove from Britain every single illegal immigrant, to be achieved through a mixed approach that combines a new hostile environment with voluntary returns and forced deportations. It would require eliminating the threat of politicised lawfare with game-changing reforms to the judiciary – most importantly by passing what we call a Great Clarification Act, designed to empower Parliament to shoot down destructive, unpopular rulings on a flexible basis.“ (S. 7)
Das Papier gliedert sich in zwei Teile, von denen der erste die rechtlichen Hindernisse und ihre Beseitigung – mit dem „Great Clarification Act“ als eine Art Ermächtigungsgesetz – und der zweite die Logistik für die Deportation von 1,8 bis 2 Millionen Menschen beschreibt. Diese Zahl beruht auf der Uminterpretation einer ohnehin hoch gegriffenen Schätzung „illegal“ in Großbritannien lebender Menschen durch Restore Britain selbst (S. 55f). Die Blaupause für die Durchführung der Massenvertreibung finden Lowe und Pitt in den USA: „Inspired in many ways by the second Trump administration, we call for a ‚hostile environment‘ to encourage self-deportations, combined with somewhere in the region of 150,000 to 200,000 forced deportations per year. Assuming a conservative ratio of three voluntary exits for every forced exit, together with a similarly conservative annual average of 150,000 forced deportations, it would take exactly 3 years to deport all of the roughly 1.8 million illegals we believe to be living in our midst. Our preferred realistic estimate […] puts the full length of mass deportations at an even more encouraging 2 years and 5 months.“ (S. 12) An einer anderen Stelle rechnen die Autoren vor, dass durch ein Trump’sches Vorgehen sogar 3,75 Millionen Menschen aus Großbritannien deportiert werden könnten, aber: „Given that our illegal population is more like 2 million, this is obvious overkill.“ (S. 102)
Anleihen an den entstehenden transatlantischen Faschismus durchziehen das Papier und schaffen einen Rahmen, in den auch antimigrantische Politiken demokratischer Regierungen wie etwa die in unserem Kontext wohlbekannte Strategie der hostile environment eingebettet sind: „It is imperative that any government intent on ending Britain’s illegal immigration catastrophe sets to work creating a new hostile environment. This would serve two important functions. First, it would make it easier to identify those living among us illegally. Second, it would produce conditions under which illegals find life in Britain so uncomfortable that, even if we cannot find them, they choose to leave voluntarily. Those who fail to do so must be pursued by the authorities and then removed by force.“ (S. 56).

Die Überlegungen zur praktischen Durchführung reichen vom Umbau der Immigration Enforcement des britischen Innenministeriums nach dem Vorbild von ICE (S. 76f) und die Einsetzung eines „Minister for Deportations and Border Integrity“ (S. 80f) über engmaschige Datenerhebungen und Berichtspflichten bis hin zur Gründung einer „Deportation NATO“. Dieser Punkt ist deshalb interessant, weil er die Massenabschiebungen im Sinne des transatlantischen Faschismus und dessen Ideologie eines ‚Neuen Westens‘ begreift und auf diese Weise internationalisiert. Dahinter steht die Vorstellung einer „collective border security coalition“, um beispielsweise Herkunftsstaaten von Migrant_innen zu Rücknahmeabkommen zu nötigen und lebenslange Einreiseverbote für deportiere Menschen in allen teilnehmenden Staaten anzuwenden (S. 92f). Auch hier wird Migrationspolitik als Krieg begriffen und einer Verteidigungsallianz überantwortet. Als potentielle Mitglieder der Deportations-NATO, die unter britischer Führung stehen soll, gelten den Autoren die USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Italien, Dänemark, Griechenland, Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, die Schweiz und Norwegen (S. 95f).
Bemerkenswert ist jedoch noch etwas anderes: nämlich das weitgehende Desinteresse an der Kanalregion und Nordfrankreich. Obschon die small boats als Trigger für Massenabschiebungen instrumentalisiert werden, erschöpft sich das Papier in einigen wenigen Forderungen, die entweder rechte Gemeinplätze oder Bestandteil des bestehenden britisch-französischen Grenzregimes sind (so etwa eine mehrsprachige Informationskampagne zur Entmutigung der Geflüchteten, von denen es bereits mehrere gegeben hat). Dies unterstreicht die Vermutung, dass es nicht um die Menschen auf der Kanalroute geht – genutzt wird lediglich ihr Zerrbild.
Und auch die Massendeportationen sind, wie Lowe und Pitt am Ende ihres Papiers schreiben, lediglich Mittel zum Zweck: „The mass deportation of every single illegal migrant can and must be the first victory in our wider struggle to restore Britain.“