„Großbritannien schließt die Tür für unbegleitete Flüchtlingskinder“, titelte die Zeitung The Independent am 26. Januar 2021. Hintergrund war eine Erklärung des britischen immigration minister (vergleichbar einem deutschen Staatssekretär) Chris Philp vier Tage zuvor. Der konservative Politiker hatte dargelegt, dass die britische Regierung nur noch in sehr begrenzten Fällen unbegleitete minderjährige Geflüchtete aufnehmen werde. Ohne es direkt auszusprechen, erklärte Philp damit ein humanitäres Aufnahmeprogramm für beendet, das der Labour-Politiker Lord Alfred Dubs im Mai 2016 nach dem Vorbild der historischen „Kindertransporte“ der Jahre 1938/39 im britischen Einwanderungsrecht verankert hatte.
Zwischen den antisemitischen Pogromen im November 1938 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 waren über zehntausend jüdische (oder nach den Vorstellungen der Nazis als „jüdisch“ klassifizierte) Kinder und Jugendliche aus dem deutschen Machtbereich nach Großbritannien und in geringerem Unfang in die USA geholt worden. Die Rettungsaktion wurde von jüdischen Vereinigungen in Zusammenarbeit mit der britischen Regierung organisiert und eröffnete für ein knappes Jahr einen legalen und sicheren Fluchtweg. Alfred Dubs verdankt sein Leben diesem Programm.
Wenngleich begrenzt, so waren die Kindertransporte eine einzigartige Antwort auf das Scheitern der Konferenz von Evian im Juli 1938. Auf ihr war es 32 teilnehmenden Staaten nicht gelungen, eine Regelung zur Aufnahme jüdischer Auswanderer_innen aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu erreichen. Grund für das Scheitern war (neben antisemitischen Tendenzen einiger Teilnehmerstaaten) die fehlende Bereitschaft, Geflüchtete aufzunehmen oder bestehende Einwanderungskontingente zu erweitern. Die Konferenz symbolisiert das Versagen der internationalen Zusammenarbeit am Vorabend der Shoah. Die Erinnerung an die Kindertransporte ist in den vergangenen Jahren auch aus diesem Grund stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Heute erinnern beispielsweise Denkmäler in Berlin, Wien, London, Danzig, Hamburg und an den Hafenanlagen des Hoek van Holland bei Rotterdam an die Aktion.
Die Initiative von Alfred Dubs hatte 2016 vor allem die minderjährigen Geflüchteten im Blick, die in Calais, auf den griechischen Inseln und in Italien unter besonders inhumanen Bedingungen lebten. Ziel war es, ein schnelles Verfahren für die Aufnahme von, so hoffte man, etwa 3.000 besonders schutzbedürftigen Personen zu schaffen. Erstmals angewendet wurde das Dubs Amendment (wie das Verfahren genannt wurde) im Zusammenhang mit der Räumung des Jungle von Calais im Herbst 2016, in dem zuvor zeitweise über 10.000 Menschen gelebt hatten, darunter über tausend unbegleitete Kinder und Jugendliche.
Neben dem Dubs Amendment hatten unbegleitete Minderjährige damals außerdem das Recht, eine Familienzusammenführung im Rahmen der EU-Dublin-Verordnung zu beantragen, sofern sie Angehörige in Großbritannien hatten. Ein drittes, gesetzlich allerdings nie kodifiziertes und zudem hochgradig improvisiertes Verfahren, sollte dies angesichts der großen Zahl von Minderjährigen in Calais und fehlender administrativer Strukturen für Familienzusammenführungen beschleunigen. Wichtig war das Dubs Amendment im Gegensatz dazu, weil es nicht die Anwesenheit von Familienangehörigen voraussetzte, sondern die Schutzbedürftigkeit als solche in den Mittelpunkt stellte.
Auf der Grundlage dieser drei Verfahren konnten 2016/17 etwa 850 unbegleitete Minderjährige legal aus Nordfrankreich nach Großbritannien einreisen, davon zunächst 220 auf der Basis des Dubs Amendment. Bereits Ende 2016 zeichnete sich jedoch ab, dass die britischen Behörden die Transfers so rasch wie möglich beenden oder auf eine möglichst geringe Zahl von Minderjährigen beschränken würden. Mehrere Gruppen von Jugendlichen, die zuvor im Calaiser Jungle gelebt hatten und nach dessen Räumung auf verschiedene Unterkünfte (sogenannte CAOMI) in Frankreich verteilt worden waren, traten in Hungerstreiks oder kehrten enttäuscht in das winterliche Calais zurück, nachdem ihnen keine Einreise gewährt worden war.
Gleichwohl wurde die Familienzusammenführung gemäß Dublin-Verordnung noch im Januar 2018 in den französisch-britischen Vertrag von Sandhurst aufgenommen. Dieser Vertrag bestätigte und aktualisierte vorrangig das Grenzregime und die Zusammenarbeit beider Staaten bei der Abwehr von Migrant_innen. In diesem Kontext jedoch definierte er auch Verfahren zur besseren Implementierung der Dublin-Familienzusammenführungen und zur besseren Zusammenarbeit der Behörden beider Staaten. Ob dies jemals so umgesetzt wurde, wissen wir nicht. Aber geblieben ist – nichts.
Dies gilt auch für das Dubs Amendment. Bereits 2017 machte das britische Innenministerium deutlich, dass es die Transfers nach der Aufnahme von 350 Personen beenden werde; nach öffentlichem Druck wurde die Zahl später auf 480 erhöht. Im Mai 2020 erklärte das Ministerium dieses Kontingent für erfüllt (siehe hier und hier), allerdings war es auf die in Calais lebenden Kinder und Jugendlichen zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr angewendet worden. Mehrere gerichtliche und politische Versuche von Dubs und verschiedenen flüchtlingspolitischen Initiativen, das Dubs Amendment zu retten oder zu reaktivieren, blieben erfolglos; ebenso der Versuch, eine ähnliche Regelung im Austrittsvertrag Großbritanniens mit der EU zu verankern. Die aktuelle Erklärung Philips bestätigt das Aus des Programms indirekt.
„When I arrived in Britain as an unaccompanied refugee child fleeing the Nazis, I never thought I would end up in the Lords. But this country not only allowed me a life and gave me sanctuary, it also gave me opportunity. I certainly never imagined that 81 years later, in the same country that gave homes to 10,000 lone refugee children like me, I’d be fighting for just a few hundred to be allowed to find their families here.“
Lord Alfred Dubs in einem Beitrag für The Guardian, 10. Januar 2020.
Mit dem Vollzug des Brexit zum Jahreswechsel 2020/21 ist Großbritannien nun auch nicht mehr an die Dublin-Verordnung der EU gebunden. Neben den viel kritisierten Regelungen über innereuropäische Abschiebungen enthält die Verordnung die wichtige und verbindliche Verpflichtung der EU-Staaten, unbegleitete Minderjährige mit ihren Angehörigen zusammenzuführen. „So hat zum Beispiel ein syrisches Waisenkind, das in Griechenland eintrifft und hofft, seinen Onkel in Birmingham zu finden, das Recht, die Zusammenführung mit ihm zu beantragen“, erläuterte Dubs den Wert dieser Regelung vor einem Jahr. Nach dem Brexit gelten nun lediglich noch die im nationalen britischen Einwanderungsrecht verankerten Bestimmungen zur Familienzusammenführung. Diese sind jedoch wesentlich ungünstiger. Die in Calais gemachten Erfahrungen der vergangenen Jahre haben außerdem gezeigt, wie schwer es für die in den informellen Camps lebenden Minderjährigen ist, überhaupt Zugang zu rechtlichen Verfahren zu finden.
Die aktuelle Erklärung von immigration minister Philp überrascht insofern nicht, sondern bestätigt einen längst sichtbaren Trend. Konkret hatte Philp am 22. Januar 2021 auf die parlamentarische Anfrage des Labour-Abgeordnten Alex Sobel aus Leeds geantwortet, der wissen wollte, welche Schritte zur Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger aus den Camps auf den Ägäis-Inseln unternommen würden. In Philps schriftlicher Antwort heißt es, man konzentriere sich auf die Fürsorge für die bereits in Großbritannien Aufgenommenen, „bevor wie übereinkommen, mehr Kinder zu nehmen.“ Die Verantwortung für minderjährige Geflüchtete in der EU läge bei deren Mitgliedsstaaten. Großbritannien sei nicht mehr an Dublin gebunden, lasse im Rahmen seines nationalen Rechts aber Familienzusammenführungen zu. Die entscheidende Passage lautet: „In den letzten fünf Jahren hat das Vereinigte Königreich mehr Flüchtlinge unmittelbar aus Konfliktgebieten angesiededt (resettled) als jedes andere europäische Land. Die Regierung räumt der unmittelbaren Ansiedlung vulnerabler Flüchtlinge aus gefährlichen Konfliktgebieten Vorrang gegenüber denjenigen ein, die oftmals Menschenschmuggler bezahlt haben, um in andere sichere europäische Länder zu gelangen. Die Ansiedlung aus sicheren europäischen Ländern erzeugt oft einen Pull-Faktor, der Migranten zu gefährlichen und illegalen Reisen an Orte wie Griechenland bewegt, in der Hoffnung, von dort anderswo in Europa angesiedelt zu werden.“
Mit anderen Worten sagte Philp: Einen legalen Weg soll es nach den Vorstellungen des Innenministers für unbegleitete Minderjährige ohne Kernfamilie in Großbritannien nicht mehr geben. Es bereits in die EU geschafft zu haben, soll als Ausschlusskritierum angesehen werden. Es verbleibt die Chance, in einem Resettlement-Programm berücksichtigt zu werden. Und um diese Chance nicht zu verspielen, sollen die Minderjährigen die Gefahrenzone, aus der sie geflohen sind, nicht hinter sich gelassen haben. – Resettlements kommen erfahrungsgemäß nur einem Bruchteil der in konfliktnahen Lagern lebenden Menschen zu Gute, selbst wenn diese alle nur erdenklichen Auswahlkriterien erfüllen.
Alfred Dubs hat, ebenso wie mehrere flüchtlings- und menschenrechtspolitische Organisationenen in Großbritannien und Frankreich, empört auf diese Erklärung reagiert, überrascht hat sie indes niemanden (vgl. The Independent und InfoMigrants).
Vielmehr wird erneut ein Element der britischen Post-Brexit-Migrationspolitik sichtbar. Der Migrationsforscher und Aktivist Thomas Tyreman schrieb Ende 2020 in einer Mail an diesen Blog, die künftige britische Migrationspolitik werde „wahrscheinlich durch die Priorisierung von Asylanträgen von außerhalb der EU (z. B. aus Flüchtlingslagern), durch Resettlement-Programme und durch die Kriminalisierung der Anträge von Personen vollzogen werden, welche die Grenze autonom (entweder per Boot, per Lastwagen oder durch Überdehnung des Visums) überschreiten.“ Genau dies bestätigt sich nun.