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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Vertreibung mit Privatsphäre

Französischer Staatsrat verwirft Klage wegen Behinderung der Berichterstattung

Am 3. Februar 2021 haben zwei Journalist.innen, die nationale Journalistengewerkschaft und die Organisation Utopia 56 vor dem französischen Staatsrat eine juristische Niederlage erlitten. Gegenstand der juristischen Auseinandersetzung, in der der Staatsrat in etwa eine Rolle wie das deutsche Bundesverfassungsgericht einnahm, war im Wesentlichen die Frage, ob die Polizei den Journalist.innen während der regelmäßigen Räumungen den Zugang zu den Camps verweigern und damit eine Berichterstattung behindern darf, oder ob damit eine grundrechtswidrige Einschränkung der Pressefreiheit einhergeht. Das französische Innenministerium als Streitgegner legte in diesem Verfahren eine überraschende Rechtfertigung des polizeilichen Absperrgürtels vor; der Staatsrat legte in seiner Urteilsbegründung hohe Hürden an, um eine Beeinträchtigung der Pressefreiheit als erfüllt anzusehen. 

Die Praxis, bei den regelmäßigen Räumungen, Dritten – einschließlich Jornalist.innen – den Zugang zu den Camps zu verwehren, haben wir bei unserer Recherche in Calais beobachten können (siehe hier). Die Journalisten Louis Witter und Simon Hamy waren zunächst vor dem Verwaltungsgericht Lille gegen diese Praxis vorgegangen (siehe hier). Dort scheiterte ihre Klage, weil das Gericht eine Eilbedürftigkeit verneinte.  

Sowohl die Kläger.innen als auch das französische Innenministerium argumentierten auf einer breiten Grundlage. Die Kläger.innen hatten vorgebracht, dass die Polizeiabsperrungen ihr Recht auf freie Berichterstattung, das Recht auf Personenfreizügigkeit und die individuelle Freiheit auf grundrechtswidrige und zumindest unverhältnismäßige Weise einschränken. Das Innenministerium führte die materielle Absicherung der Polizeioperation, das Verhindern eines Eingreifens Dritter und den Schutz der Privatsphäre und Würde der zu räumenden – teilweise minderjährigen – Migrant.innen an. Hatte die Präfektur im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht in Lille noch auf die eigenen Pressemitteilungen als ausreichende Informationsquelle für die Berichterstattung verwiesen, betonte das Innenministerium nun, dass die Maßnahmen zwar in die Pressefreiheit eingreife, jedoch nicht soweit, dass Journalist.innen ausschließlich auf die Informationen der Präfektur angewiesen seien.

Tweet von Louis Witter zu dem Urteil. Das Foto zeigt das Zerstören eines Zeltes mit dem Messer während einer Räumung. Diese Praxis wurde vor allem in Grande-Synthe wiederholt dokumentiert. (Quelle: Louis Witter / Twitter)

Der Staatsrat verwarf die Klage in seiner Entscheidung nun in der Sache. Dabei würdigte er vor allem die Einschränkung des Grundrechtes auf Pressefreiheit als zentral verletztes Grundrecht, und dieser Linie folgend ließ er Utopia 56 als Verfahrensbeteiligte nicht zu. Allerdings wertete der Staatsrat die Einschränkung der Pressefreiheit im Verhältnis zum Grundrecht auf Privatsphäre sowie mit der Sicherheit der Operation als nicht unzulässig.

Prozesstaktisch dürfte es zum juristischen Erfolg des Innenministeriums beigetragen haben, dass es eine Einschränkung der Pressefreiheit eingeräumt hat, diese aber mit dem Schutz der Privatsphäre der minderjährigen Migrant.innen legitimierte. Außerdem erkannte der Staatsrat die Sicherheit der Polizeioperation als Motiv für Absperrungen an, prüfte aber nicht, inwieweit der Zugang von Journalist.innen die Operation überhaupt gefährden könnte.

Angesichts der tatsächlichen Verhältnisse vor Ort wirkt die Argumentation allerdings zynisch. Neben dem Schutz ihrer Privatsphäre kommen den minderjährigen wie den erwachsenen Migrant.innen eine ganze Reihe weiterer Grundrechte zu, die faktisch –  auch und gerade durch die Räumungen – verletzt werden. 

Louis Witter weist in einem Kommentar auf die Widersprüchlichkeit in der Argumentation des Innenministeriums hin. (Quelle: Louis Witter / Twitter)

Als Erfolg können die Journalist.innen verbuchen, dass das Innenministerium sich genötigt sah, die ursprüngliche Argumentation der Präfektur nachzuschärfen: Mit der Einschätzung von Journalist.innen als potentielle Störer.innen und dem Vorschlag einer freien Berichterstattung auf Basis behördlicher Pressemitteilungen mochten die Hausjurist.innen dann wohl doch nicht vor dem Staatsrat erscheinen. 

Da das Verwaltungsgericht in Lille nur über die Eilbedürftigkeit, nicht jedoch in der Sache entschieden hatte, schien es dem vorsitzenden Richter am Staatsrat notwendig, die Präfektur sowohl in den Urteilsgründen als auch in der Pressemitteilung darauf hinzuweisen, dass sie bei künftigen Räumungen die Abstände zum Geschehen so festlegen muss, dass eine freie Berichterstattung nicht verhindert wird. Da die Behörden die Abstände seit Beginn des Verfahrens immer weiter vergrößert haben, bleibt es abzuwarten, ob die Präfektur dies berücksichtigen wird.

Vincent Brengarth, der Anwalt der nationalen Journalistengewerkschaft zeigt sich gegenüber der Zeitung Le Monde jedenfalls enttäuscht: „Der Schutz der öffentlichen Ordnung wurde über die Freiheit der Berichterstattung gestellt. Dies ist umso schockierender, wenn man weiß, dass es [bei den Räumungen] wiederholt zu Menschenrechtsverletzungen kommt, und das Recht auf freie Berichterstattung deswegen hätte gestärkt werden müssen.“

Siehe auch:

  1. Bericht der Zeitung Le Monde über das Urteil des Staatsrats
  2. Bericht über den Prozess vor dem Verwaltungsgericht in Lille
  3. Bericht der Zeitung l’Obs über das Urteil