Die Havarie eines Schlauchbootes am 12. August 2021 vor Dunkerque (siehe hier und hier) hat möglicherweise einem weiteren Menschen das Leben gekostet. Bislang war bekannt, dass ein Passagier zunächst das Bewußtsein verloren hatte und dann im Krankenhaus von Calais gestorben war. Offenbar handelt es sich um einen 27 Jahre alter eritreischer Mann namens M., der zuvor in einem Camp in Grande-Synthe lebte. Nun wurde bekannt, dass ein weiterer Passagier des gesunkenen Bootes vermisst wird.
Wir folgen an dieser Stelle einem am 17. August veröffentlichten Bericht von Calais Migrant Solidarity. Demnach hätten die Passagiere aufgrund der großen Diszanz zur Küste keinen Notruf per Telefon absetzen können. Sie hätten Signale in Richtung vorüberfahrender Frachtschiffe gegeben, zweimal hätten Schiffe nicht reagiert. Zwei Stunden lang hätten die Leute Wasser aus dem Boot geschöpft und schließlich Gepäck über Bord geworden, einzelne seien ins Wasser gesprungen, um das Gewicht zu reduzieren. Schließlich setzte das Frachtschiff Elena einen Alarm ab und leitete die in den Medienberichten der folgenden Tage beschriebene Rettungsaktion ein. Außerdem barg es den bewußtlosen M. aus dem Wasser.
Die weiteren Verlauf rekonstruierte Calais Migrant Solidarity „aus den im Laufe des Tages auf UKW-Kanal 16 abgehörten Gesprächen, den Aussagen der Überlebenden, den Pressemitteilungen und den AIS-Daten [Automatic Identitification Sytem – ein Funksystem zu Austausch von Nativationsdaten im Schiffsverkehr, tm].“ Auf dieser Quellenbasis gewinnt die Gruppe ein detailliertes Bild des Rettungseinsatzes, an dem neben der Elena die beiden Fischerboote Nicolas Jeremy und Notre Dame de Boulogne und ein Rettungshunschrauber der belgischen Marine beteiligt waren. „Aus den Gesprächen, die über Funk mitgehört wurden, ging hervor, dass mehrere Personen zu verschiedenen Zeiten bewusstlos im Wasser lagen. Es ist jedoch nicht klar, ob alle diese Personen an Bord der Rettungsboote gebracht wurden oder ob einige von ihnen bei der Rettung der noch lebenden Personen im Wasser zurückgelassen wurden.“
Etwa eine Dreiviertelstunde nach Beginn der Rettungsaktion traf dann das französische Marineschiff P676 Flamant ein. Nachdem die Geretteten von Bord der Fischerboote und der Elena per Hubschrauber auf die Flamant gebracht worden waren, bestätigte dieser gegenüber der Rettungsleitstelle CROSS Gris-Nez, dass sich niemand mehr im Wasser befinde. Auch der später verstorbene M. war bewußtlos zunächst auf die Flamant gebracht und dann nach einer ärztlichen Telefonkonferenz ins Krankenhaus geflogen worden. „Um 11:17 Uhr forderte CROSS Gris-Nez den Hubschrauber auf, das Gebiet erneut nach Personen abzusuchen, die möglicherweise vermisst wurden. Der Hubschrauber antwortete, dass er soeben eine Suche im Umkreis von 1,8 Seemeilen abgeschlossen habe, schlug aber eine weitere Suche ‚3 Seemeilen südwestlich der ursprünglichen Punkte‘ vor, um die Abdrift zu berücksichtigen.“ Über diese Phase des Einsatzes merkt der Bericht an: „Obwohl während der gesamten Rettungsaktion von mehreren bewusstlosen Personen im Wasser berichtet wurde, klang es in den Funkgesprächen so, als ob sich nur eine bewusstlose Person auf der Flamant befand.“
An Bord der Flamant hätten die gerettete Passagiere nach eigenen Angaben versucht, „die Behörden zu alarmieren, dass noch weitere Personen auf See sein könnten. Es bleibt unklar, ob die Behörden aufgrund dieser Informationen weitere Maßnahmen ergriffen haben. Wir können zwar nicht genau sagen, was bei der Rettung passiert ist, aber die Überlebenden, mit denen wir gesprochen haben, sind sich sicher, dass mindestens eine Person vom gesunkenen Schiff noch vermisst wird. Da sie uns sagten, dass sich einige Personen schon früh ins Wasser geworfen hatten, um das Sinken des Schiffes vielleicht zu verzögern, ist es möglich, dass nicht alle von ihnen bei der größeren Rettungsaktion gefunden wurden.“
Nach der Ankunft im Hafen von Dunkerque hätten die Überlebenden, so der Bericht weiter, sowohl die dort anwesenden Freiwilligen von Utopia 56 als auch die Polizei, die einen Teil der Passagier_innen zunächst festnahm und verhörte, über die vermisste Person informiert.
Am Freitag , dem Tag nach der Havarie, meldeten sich Angehörige der eritreischen Community in Grande-Synthe bei der Polizei „und gaben den Namen und das Foto des Vermissten weiter. Die Bridgade de Recherche (Sonderermittlungseinheit) der Police Nationale in Dunkerque leitete eine Untersuchung ein und schickte eine Vermisstenmeldung an alle Polizeistationen und Krankenhäuser, konnte ihn aber nicht ausfindig machen. Die Polizei sagte auch, dass am Freitagmorgen eine zweistündige Suche auf dem Meer eingeleitet wurde.“ Die Rettungsleistelle CROSS Gris-Nez habe dies nicht bestätigen wollen und „seither keine weiteren Informationen gegeben, auch nicht darüber, ob sie glaubt, dass sich noch jemand von dem gekenterten Boot auf See befindet, oder ob sie weitere Suchaktionen eingeleitet hat. Die Behörden haben sich nicht offiziell zu dieser vermissten Person geäußert.“
Sollte tatsächlich eine weitere Person vermisst sein, so ist es aufgrund der großen Distanz zur Küste, der Wassertemperaturen und der bereits genannten Abfrift so gut wie undenkbar, dass sie die Havarie überlebt hat.