Einen Tag, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verbringung von Geflüchteten nach Ruanda in letzter Minute stoppte, gab die britische Regierung am 15. Juni 2022 eine neue Maßnahme bekannt: Den Start eines Modellversuchs zur elektronischen Markierung und Überwachung von Migrant_innen. Die Maßnahmen flankiert den britisch-ruandischen Asylpakt, an dem die Regierungt Johnson nach wie vor festhält. Sie richtet sich gegen Migrant_innen, die aus der EU in Schlauchbooten und versteckt auf Lastwagen nach Großbritannien eingereist sind. Zu den ersten Betroffenen gehören voraussichtlich diejenigen, deren Deportation nach Ruanda das Straßburger Gericht vorläufig verhindert hat.
Die Ankündigung erfolgte im Kontext einer wütenden Demagogik, mit der Premierminister Boris Johnson und Innenministerin Priti Patel auf die Entscheidung des Straßburger Gerichts reagierten: Während Patel sie in einem Interview mit der Boulevardpresse als „absolutely scandalous“ bezeichnete und den Straßburger Richter_innen eine politische Motivation unterstellte – Johnson höhnte von einem „weird last-minute hiccup“, an dem das Gericht leide –, deutete Justizminister Dominic Raab vielsagend an, „that new laws could ensure interim measures from the Strasbourg court could in effect be ignored by the government.“ Die Äußerungen zeigen, zu welch offener Missachtung des internationalen Rechts die innenpolitisch angeschlagene Regierung inzwischen tendiert.
Mit der Übertragung der Zuständigkeit für die Migrationskontrolle im Ärmelkanal auf das Militär, die Vereinbarung mit Ruanda und der Verabschiedung des Nationality and Borders Act 2022 hat die konservative Regierung im April die Grundlage dafür gelegt, irregulär aus Frankreich und anderen EU-Staaten eingereiste Menschen als „unzulässig“ aus dem britischen Asylrecht auszuschließen, sie durch ein one way ticket nach Ruanda außer Landes zu schaffen und bis dahin zu inhaftieren. Allerdings sind die Grenzen dieser Politik bereits sichtbar. Während seit Jahresbeginn mehr als 11.000 Personen den Ärmelkanal in Schlauchbooten passiert haben, wodurch sie nach Ansicht der Regierung pauschal unter das neue Migrationsregime fallen, dürfte die Zahl der tatsächlichen Abschiebungen nach Ruanda auf absehbare Zeit klein bleiben, vorausgesetzt dass sie nach der weiteren Prüfung durch die Gerichte überhaupt durchgeführt werden können. Eine vorbereitende Inhaftierung der potenziell Betroffenen wird allein aus Kapazitätsgründen kaum möglich sein, auch wenn das Innenministerium daran festhält, „so viele Menschen in Haft halten, wie es das Gesetz zulässt“.
In dieser für sie schwierigen Situation greift die Regierung auf eine Methode zurück, die im britischen Strafvollzug bereits etabliert ist, nämlich die Haftentlassung unter Auflage der elektronischen Überwachung. Das Verfahren ist auch in Deutschland unter dem Stichwort ‚elektronische Fußfessel‘ bekannt. Neu ist die Anwendung im Rahmen des Asyl- und Migrationsrechts.
Durchgeführt wird das Tagging (zunächst) im Rahmen einer zwölfmonatigen Testphase. Diese hat nach Mitteilung der Regierung in England und Wales schon begonnen. Allerdings erklärten die Behörden nicht, ob tatsächlich bereits Migrant_innen getaggt worden sind und, wenn ja, um wieviele und welche Personen es sich handelt.
Unter dem Titel Immigration bail conditions: Electronic monitoring (EM) – expansion pilot veröffentlichte das Innenministerium am 15. Juni die Durchführungsrichtlinie für das Projekt. Demnach richtet es sich explizit gegen Migrant_innen, die in kleinen Booten oder versteckt in Lastwagen aus der EU eingereist sind; auch die Verknüpfung mit dem Ruanda-Deal der britischen Regierung wird hervorgehoben. Das Tagging soll den Zugriff der Behörden gerantieren und verhindern, dass Betroffene sich dem Zugriff entziehen; sofern dies geschieht, sollen darüber Daten gesammelt werden.
Das Tagging soll mit Mitwirkungs- und Anwesenheitspflichten verbunden sein und kann mit einer Ausgangssperre (curfew) sowie mit der Verpflichtungen einhergehen, bestimmte Zonen nicht zu verlassen oder nicht zu betreten. Wer sich nicht an die Auflagen hält, riskiert abgeschoben, inhaftiert und strafrechtlich verfolgt zu werden. Zwar sollen Kinder und Schwangere von der Maßnahme ausgenommen sein. Auch die physische und psychische Gesundheit soll in die Entscheidung einbezogen werden, ob ein Mensch elektronisch markiert und überwacht wird. Allerdings heißt es in der Richtlinie, dass die nachgewiesene Erfahrung von Folter und moderner Sklaverei für sich genommen noch kein Ausschlusskriterium darstellt.
Das Tagging bedeutet eine Stigmatisierung der betroffenen Menschen und ordnet sie allein aufgrund des Weges, auf dem sie ins Land gelangt sind, einem Anwendungsbereich des staatlichen Gewaltmonopols zu, der bislang Straftäter_innen vorbehalten ist. Und nicht nur dies: Auf der Oberfläche ihres eigenen Körpers kommuniziert es ihnen, dass sie der Grenzfalle, die sie in den Camps an den nach außen gestülpten Grenzen Europas und des Vereinigten Königreichs erleben mussten, noch nicht entkommen sind und nach dem Willen der Regierung auch nicht entkommen sollen, solange sie sich im Land befinden. Ruanda soll, so die Logik, als einziger Ausweg erscheinen.
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