Zur britisch-türkischen Zusammenarbeit bei der Vorfeld-Bekämpfung der Bootspassagen
Die Regierungen Großbritanniens und der Türkei veröffentlichten am 9. August 2023 eine gemeinsame Erklärung zum Aufbau eines „Kompetenzzentrum“ für die Bekämpfung von Schleusernetzwerken und zur Unterbrechung der Lieferketten für Boote und Bootsequipment. Kurz vorher war bekannt geworden, dass Großbritannien bereits jetzt türkische Grenztruppen unterstützt und Informationen über Geflüchtete, die den Ärmelkanal passiert haben, an diese weiterleitet. Diese Entwicklung ist Teil einer Internationalisierung der britischen Grenzpolitik nach dem Ausscheiden aus der EU. Sie dokumentiert zudem die Bereitschaft, auch mit hochproblematischen Partnern zu kooperieren.
Für das Verständnis der neuen Vereinbarung ist es wichtig zu wissen, dass die Türkei neben China als wichtigste Bezugsquelle für die von professonellen Anbieter_innen eingesetzten Schlauchboote bzw. Bootsequipment gilt. Diese werden vielfach in Deutschland, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, zwischengelagert und von dort in die Ärmelkanalregion gebracht. Die Zusammenarbeit der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung dieses Lieferwegs ist u.a. Gegenstand der 2021/22 etablierten Zusammenarbeit von Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Deutschland und mehreren EU-Behörden im sogenannten Calais-Format, mit der wir uns in einem unserer nächsten Beiträge detailliert beschäftigen werden.
Die Zusammenarbeit mit der Türkei weitet diese Kooperation also auf einen Staat aus, der als Schlüsselfaktor bei der Unterbrechung der Lieferwege angesehen wird.
Dabei bleibt die gemeinsame Erklärung mit dem Titel UK-Türkiye joint statement on illegal migration vage. Der kurze Text beginnt mit allgemeine Aussagen zur Notwendigkeit „internationaler, regionaler und bilateraler Zusammenarbeit“ bei der Steuerung von Migration und der Bekämpfung von Schleusernetzwerken. Ohne die Kanalroute explizit zu benennen, heißt es sodann:
„Im Rahmen der bestehenden Zusammenarbeit wird das Vereinigte Königreich als Zeichen dieser Entschlossenheit das von der türkischen Nationalpolizei einzurichtende Kompetenzzentrum (Centre of Excellence) unterstützen. Dieses Zentrum wird das in beiden Ländern vorhandene Fachwissen in Bezug auf Maßnahmen zur Zerschlagung krimineller Netze, die illegale Reisen organisieren, erweitern.“
Erst eine begleitende Presseinformation der britischen Regierung verdeutlicht, dass es vor allem um die „Unterbrechung der Lieferkette von Bootsteilen und anderen Materialien [geht], die für die illegale Migration verwendet werden“. Als zweite Zielsetzung wird die Bekämpfung der „organisierten Einwanderungskriminalität“ (organized immigration crime) genannt.
Genauere Angaben über das geplante Komzetenzzentrum finden sich auch in der Presseerklärung nicht. Weder Standort, Leitung und Status der Einrichtung, noch ihre personelle, technische und finanzielle Ausstattung, ihre Befugnisse und der genaue Anteil der britischen Unterstützung werden benannt. Gleichwohl finden sich einige ergänzende Informationen:
„Das Zentrum wird auf der bestehenden Zusammenarbeit zwischen unseren Strafverfolgungsbehörden aufbauen und den Abgleich zwischen britischen und türkischen Erkenntnissen verbessern, so dass das operative Personal schneller auf Informationen reagieren kann. […] Das Zentrum wird die Zusammenarbeit zwischen in der Türkei tätigen nachrichtendienstlichen Mitarbeitern der NCA [National Crime Agency] und des Innenministeriums [original: NCA and Home Office Intelligence staff] und ihren türkischen Kollegen verstärken, und das Vereinigte Königreich wird mehr Beamte in die Türkei entsenden, um die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Operationen zur Zerschlagung der kriminellen Banden zu ermöglichen, die die illegalen Fahrten erleichtern.“
Diese Zielsetzung erinnert an vergleichbare Gremien zum Informationsaustauch britischer und französischer Stellen, die ab den 2010er Jahren schrittweise ausgebaut werden und deren Weiterentwicklung seither Gegenstand einer Vielzahl bilateraler Vereinbarungen ist. Die geplante britische Unterstützung der türkischen Nationalpolizei ist weit weniger ausgeprägt, wird offenbar jedoch als Schritt hin zu einer umfassenderen Zusammenarbeit begriffen:
„Ein neues Memorandum of Understanding wird auch den verstärkten und schnelleren Austausch von Zolldaten, Informationen und nachrichtendienstlichen Erkenntnissen zwischen den britischen und türkischen Behörden regeln, um unsere gemeinsamen Bemühungen zur Unterbrechung der Lieferkette für die small boats weiter zu unterstützen.“
Hinzu kommt ein „verstärktes britisch-türkisches Engagement auf Arbeitsebene“. Im Herbst 2023 soll die Thematik auch bei einem in London stattfindenden Treffen zum „britisch-türkischen Migrationsdialog“ behandelt werden. „Beide Länder haben sich außerdem verpflichtet, das Problem der illegalen Migration auf internationalen Plattformen anzusprechen.“
Die verstärkte Zusammenarbeit ist, folgt man der Presseerklärung, das Ergebnis eines Türkei-Besuch des britischen Immigration minister (Staatssekretär) Robert Jenrick im Juli 2023. Seine Reise war der Abschluss „einer Reihe strategisch wichtiger internationaler Besuche zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung und der Unterbrechung der von Schleusern genutzten Routen“. Dabei habe der Jenrick Belgien, Tunesien, Italien und die Türkei besucht. Als einziges Detail hebt die Erklärung hervor, dass er den türkisch-bulgarischen Grenzübergang Kapikule aufgesucht und sich dort über die „gemeinsame operative Arbeit zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ informiert habe. In diesem Kontext erwähnt die Presseerklärung auch die „jüngsten Vereinbarungen mit Ländern wie Bulgarien und Georgien sowie die verstärkten Partnerschaften mit Frankreich und Albanien“. Diese Abkommen hätten die Zahl der vor dem Ablegen unterbrochenen Bootspassagen erhöht und den Anteil albanischer Staatsangehöriger unter den Passagier_innen stark verringert.
Obschon nach wie vor fast so viele Menschen den Ärmelkanal per Schlauchboot passieren wie im Vorjahr, suggeriert die Presseerklärung eine einschneidende Wirkung solcher Bemühungen. Der Hinweis auf den Grenzübergangs Kapikule kann als Geste des Einverständnisses mit dem dortigen Grenzregime einverstanden ist.
Es ist nicht die erste Vereinbarung, die Großbritannien vor dem Hintergrund der Channel crossings mit der Türkei trifft. Wie der Guardian im Juni 2023 herausfand, zahlte das britische Innenministerium „im vergangenen Jahr mehr als 3 Millionen Pfund an türkische Grenzschutzkräfte, um Migranten daran zu hindern, nach Großbritannien zu gelangen“. Die Summe sei seit 2019, als „14.000 Pfund für die Ausbildung im Bereich der maritimen Grenzsicherung“ bereitgestellt wurden, stark gestiegen. Die 2022 ausgezahlten Gelder seien aus einem Budget für Entwicklungshilfe abgezweigen und über eine Abteilung ausgezahlt worden, die zur Direktion des Innenministeriums für die Nachrichtendienste (Intelligence Directorate) gehört. Neben der finanziellen Unterstützung habe das britische Innenministerium die türkische Nationalpolizei einschließlich der Küstenwache „mit Ausrüstung und Ausbildung versorgt“ und u.a. „neun Fahrzeuge an die türkische Nationalpolizei an der Grenze zum Iran“ übergeben. Der Guardian weist darauf hin, dass an dieser Grenze massenhafte Pushbacks sowie scharfe Schüsse und andere Gewalttaten türkischer Grenztruppen gegen Geflüchtete dokumentiert sind.
Der Guardian zitiert eine dem Innenministerium zuzurechnende Quelle mit der Aussage: „Wenn wir für solche Dinge bezahlen, stärkt das unsere Glaubwürdigkeit in anderen Bereichen, wie etwa bei möglichen Rückführungsabkommen.“ Das Innenministerium habe auf diese Weise eine Plattform für internationale Kooperation etabliert, die von der türkischen Seite gern genutzt werde. Aus weiteren Quellen erfuhr der Guardian, dass das Innenministerium Informationen an die Türkei weitergebe, die es aus der Befragung von Geflüchteten nach der Passage des Ärmelkanals gewonnen habe. Solche Befragungen werden nach der Anlandung routinemäßig durchgeführt. „Die Informationen aus diesen Gesprächen werden dann an die Grenzschutzbehörden vor Ort weitergegeben, um ‚einen operativen Plan zu erstellen, um sie zu stoppen‘.“ Flankierend habe das Innenministerium die Zahl seiner in der Türkei tätigen Mitarbeiter erhöht.
Das Innenministerium reagierte auf die Enthüllungen des Guardian mit der Aussage, auch andere europäische Länder in ähnlicher Weise mit Herkunfts- und Transitstaaten zusammenarbeiten.
Die Kooperation mit der Türkei verdeutlicht damit zum einen die starke Verwobenheit post-brexit-britischer und kontinentaleuropäischer Migrationspolitiken. Bezogen auf Großbritannien steht sie für eine Tendenz zur Internationalisierung der Grenzpolitik entlang der Migrationsrouten und Lieferketten – und damit weit im Vorfeld der eigentlichen Bootspassagen.
Hatte sich die britische Grenzpolitik seit den 1990er-Jahren vorrangig auf bilaterale Abkommen mit Frankreich gestützt, in die nach Bedarf die Nachbarstaaten Belgien und Niederlande einbezogen wurden, so sehen wir nun die Entwicklung komplexerer Strukturen. Neben den neuen bilateralen Vereinbarungen mit Staaten, die an Migrationsrouten bzw. Lieferketten gelegen sind, kann auch das vielzitierte Ruanda-Abkommen als Teil dieser Internationalisierung begriffen werden, auch wenn es nicht auf die Verhinderung der Einseise, sondern die Fortschaffung der Eingereisten abielt. Auch das oben erwähnte Calais-Format, also die Einbeziehung Deutschlands und der EU in einen neuen multilateralen Rahmen, soll den Transport und die Lagerung der Boote und ihres Zubehehörs unterbinden. (Dass dies bislang kaum gelang und zudem auf rechtliche Hindernisse trifft, ist Gegenstand eines künftigen Beitrags.) Mit der Türkei-Kooperation zeigt sich nun ein weiterer Baustein.