Im Januar 2024 passierten mehr Exilierte den Ärmelkanal in Schlauchbooten wie in den Vergleichsmonaten der Vorjahre. Die britischen Behörden registrierten bis zum 31. Januar insgesamt 1.335 Ankünfte per Boot. Zum Vergleich: In den Vorjahren waren 1.180 (Januar 2023), 224 (Januar 2022) bzw. 94 (Januar 2021) Menschen auf diese Weise nach Großbritannien gelangt. Gleichzeitig starben noch nie in einem Januar so viele Menschen bei einer versuchten Passage wie in diesem Jahr. Die Entwicklung spiegelt eine erhöhte Risikolage, die indirekt aus der verstärkten Küstenüberwachung resultiert.
Die ungünstige Witterung ließ im Januar nur an wenigen Tagen Bootspassagen zu: Am 13. Januar setzten nach fast einmonatiger Unterbrechung drei Boote mit 124 Personen über, gefolgt von vier Booten mit 139 Personen am 14. Januar, acht Booten mit 358 Personen am 17. Januar, einem Boot mit 48 Personen am 25. Januar, zwei Booten mit 112 Personen am 27. Januar und fünf Booten mit 270 Personen am 28. Januar. Beim Ablegen eines Bootes am 14. Januar starben mindestens fünf Menschen (siehe hier). Für den Februar sind bislang keine Passagen dokumentiert.
Obwohl die Zahl der Grenzpassagen im vergangenen Jahr erstmals zurückging – sie dank von über 45.000 Personen im Jahr 2022 auf knapp 30.000 in 2023 – ist die Kanalroute weiterhin stark frequentiert.
Anfang Februar resumierte der französische Seepräfekt für den Ärmelkanal und die Nordsee (PREMAR), Marc Véran, die Entwicklung des letzten Jahres: Die Zeitung La voix du Nord zitiert ihn mit der Aussage, die 200 Kilometer langen Küste zwischen Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer sei durchgängig von rund 800 Polizei- und Gendarmerieangehörige kontrolliert worden. Insbesondere der Einsatz an Land habe zum Rückgang der Passagen geführt, wenn auch nicht als alleinige Ursache. PREMAR registrierte die versuchte Überfahrt von 35.800 Exilierten gegenüber 51.786 im Vorjahr [Doppelzählungen inbegriffen, d. Verf.]. 6.400 Personen seien von staatlichen Stellen auf See gerettet worden. Zugleich sei die durchschnittliche Zahl von etwa 30 auf 50 Menschen pro Boot angestiegen. „Wir haben einmal ein 13-Meter-Boot mit 90 Personen gesehen. Wenn es sinkt, würden wir es nicht schaffen, alle zu retten, selbst wenn wir die gesamte US-Marine einsetzen würden“, so Seepräfekt Marc Véran. Vor diesem Hintergrund schätzte er die Zahl von zwölf Todesfällen, die seine Behörde 2023 im Zusammenhang mit einer Bootspassage registrierte, als überraschend gering ein.
In einer Ende Januar veröffentlichten Analyse zeigt die NGO Alarmphone auf, dass die auf Grundlage der britisch-französischen Vereinbarungen (siehe hier) massiv ausgebaute Küstenüberwachung das Risiko für die Exilierten deutlich erhöht habe, mit letztlich tödlichen Konsequenzen: „Weniger Boote werden an die französische Küste gebracht, was gefährliche Überfüllung und chaotisches Ablegen verursacht.“ Dies gehe mit „mehr Attacken der Polizei gegen ablegende Boote“ einher, was „Panik provoziert und die ohnehin unsichere Situation weiter destabilisiert.“ Dies deckt sich mit der Einschätzung der im Küstengebiet tätigen NGOs und auch mit unserer Analyse (siehe hier).
Die vergleichsweise hohe Zahl der Bootspassagen im Januar lässt sich also vor allem als ein Krisenphänomen verstehen: Anders als in den ersten Jahren der Kanalroute werden die Wintermonate seit 2022/23 nicht mehr gemieden. Die besonders ungünstige Witterung in 2023/24 hat einen zusätzlichen Rückstau erzeugt, der im Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque, für Viele die letzte Station vor der Boospassage, deutlich sichtbar war. Als wir ihn Ende November besuchten, hielten sich dort um die 2.000 Menschen auf. Anfang Februar schätzte der Verein Salam, der dort regelmäßig Mahlzeiten verteilt, ihre Zahl auf etwa 500 oder 600 Menschen, was andere Akteure bestätigen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Zahl der Bootspassagen vorläufig erst einmal zurückgehen.