Die anhaltende Räumungswelle erzeugt eine Extremsituation, während sich eine zweite Welle der Corona-Pandemie abzeichnet
Während sich die öffentliche Gesundheitsfürsorge in den Departements Pas-de-Calais und Nord auf die zweite Welle der Corona-Seuche vorbereitet, zerstörte eine weitere Räumung den prekären Ort, an dem ein Großteil der Menschen aus dem drei Wochen zuvor zerstörten Jungle inzwischen lebte. Dieser Ort war der Dubrulle-Wald, eine etwa 200 mal 350 Meter große Waldparzelle am Rand des Industriegebiets Zone des Dunes, in der seit den ausgehenden 1990er Jahren immer wieder informelle Camps entstanden waren. Die Zerstörung des Jungle und die Räumung des Waldes (sowie eines weiteren Camps am gleichen Tag) verschärften die inhumane Situation der Migrant_innen ein weiteres Mal – und ließen viele von ihnen in das Zentrum der Stadt zurückkehren, aus dem man sie während der vergangenen Jahre systematisch verdrängt hatte.
Zur Vorgeschichte: Am 10. und 11. Juli 2020 hatte auf dem Gelände des Jungle in der Zone Industrielle des Dunes eine Räumungswelle begonnen, die sich in der Folgewoche gegen ein Camp an der Calypso-Sporthalle fortsetzte, in das einige Hundert der vertriebenen Migrant_innen ausgewichen waren (siehe Rekonstruktion der Ereignisse hier). Viele von ihnen siedelten sich danach im Dubrulle-Wald und an der nahegelegenen Route de Gravelines an, welche die westliche bzw. südliche Grenze des weitläufigen Industriegebiets markieren (siehe hier). Die geräumten Flächen des Jungle wurden unterdessen durch massive Zäune abgeschottet, so wie andere geräumte Gelände zuvor und der Dubrulle Wald vielleicht in nächster Zukunft. „Es ist zu einer Festung geworden“, beschrieb die Lokalzeitung La Voix du Nord den Zustand der Zone des Dunes treffend.
Diese massiven Massnahmen bildeten die Bühne für einen Calais-Besuch neuen konservativen Innenministers Gérald Darmanin, auf der er sich als Garant einer harten Politik gegen Migrant_innen in Szene setzte und seiner britischen Amtskollegion Handlungsmacht demonstrierte. Die Räumungswelle war damit vor allem ein symbolpolitischer Akt. Neben lokalen Initiativen verurteilten u.a. die traditionsreiche französische Flüchtlingshilfsorganisation Cimade, Amnesty International France, Médecins du Monde, Médecins Sans Frontières France und Secours Catholique (französische Caritas) die Räumungen in einem offenen Brief an Darmanin scharf.
Diese Politik fand nun ihre Fortsetzung: Nach dem Muster der vorangegangenen Räumungen brachten die Behörden am 29. Juli 2020 die Kopie eines gerichtlichen Räumungsbeschlusses am Rand des Dubrulle-Waldes an. Die Räumung selbst begann am frühen Morgen des 30. Juli, wurde von einem Großaufgebot der Polizei durchgeführt und ging mit der Verbringung eines Teils der Bewohner_innen in verschiedene Aufnahme- und Haftzentren einher. Wie La Voix du Nord berichtet, beherbergte das Camp bis dahin mindestens vierhundert Menschen. Unmittelbar nach der Räumung gefilmte Videoaufnahmen der Zeitung (ebd.) zeigen eine Vielzahl verlassener Zelte, provisorischer Schlafstätten, Herdstellen mit teils noch brennendem Feuer, zwischen die Bäume gespannter Schutzplanen, herumstehender Wasserkanister, in großer Menge zurückgelassener Wäsche und Decken, vereinzelt auch Kinderwagen und andere persönliche Gegenstände. Indirekt macht dieses knapp einminütige Video sichtbar, in welchem Maße solche Räumungen mit der Enteignung des persönlichen – und für das Überleben in der Prekatität existenziellen – Besitzes einher gehen. Üblicherweise werden diese Dinge nach solchen Operationen als Müll abtransportiert.
Nach der Räumung des Dubrulle-Waldes folgte die Räumung eines weiteren Camps in der Nähe des Krankenhauses, wo seit einigen Jahren kleine Niederlassungen von Migrant_innen existieren.
Nach Angaben der Präfektur des Pas-de-Calais wurden an diesem Tag 127 Personen in sogenannte Aufnahme- und Unterbringungszentren (CAES; centres d’accueil et d’hébergement), 26 Personen in spezielle Einrichtungen für Familien und Minderjährige (centres d’hébergement et de réadaptation sociale) und zwei in Haftzentren transportiert. Die CAES stellen mit ihrer Möglichkeit, dort Zugang zum französischen Asylsystem zu erhalten, aus Sicht der Behörden einen humanitären Ausweg aus der prekären Situation in den Camps dar; sie spielen daher in der politischen Legitimierung der dortigen Maßnahmenpolitik eine zentrale Rolle. Tatsächlich jedoch kehren viele bereits nach einigen Tagen aus den Zentren wieder zurück, beispielsweise weil sie die rechtlichen Möglichkeiten in Frankreich bereits ausgeschöpft haben, eine Dublin-Abschiebung in ein anderes EU-Land befürchten oder an ihrem Ziel Großbritannien festhalten.
So führte auch die aktuelle Räumungswelle nicht dazu, dass die Migrant_innen Calais in einer relevanten Anzahl verließen. Vielmehr bedeutete sie eine Verdrängung an noch provisorischere Orte oder schlicht auf die Straße. Die in Calais tätige britische Organisation Care4Calais schilderte dies am 30. Juli am Beispiel derjenigen, die den Dubrulle-Wald nach der Räumungsankündigung verlassen hatten:
„An eviction notice put up yesterday gave people a chance to get away, but in a cruel twist police followed to where they went and there forced three bus loads of people to leave for destinations unknown. The ones that left took shelter in nearby woods or on waste ground. Our volunteers went out early this morning, looking for those in need of help. We came across a rough field next to a dual carriageway where, taking shelter from the heat, a group of young Sudanese men had gathered behind a small industrial structure. They’d managed to flee last night, and have been here since, without food or water. Though exhausted, dehydrated, and disorientated, they were remarkably stoic, according to our volunteer Matt. ‚They’re confused about what to do next, but they’re resilient as ever‘, he said. ‚Together in a group, friendly and affable and polite, despite this awful situation.‘
Another group of volunteers searched the woods, but police were already combing the area and we were quickly ushered out. As we were leaving, a lone refugee emerged from the trees, frightened and clutching his rolled up sleeping bag. Police escorted him towards a long line of vans parked nearby, his future now more uncertain than ever.
We’re now hearing worrying reports that people are also being plucked from the streets while walking in and around Calais. This is some of the most widespread and intensive police action we’ve seen, and the mood here is one of fear and uncertainty. People can’t live like this. This is no way for a European government to treat people who are traumatised and fleeing war. They have come to Europe for help, having broken no laws.„
Diese Entwicklung spiegelt sich auch in einem Bericht von La Voix du Nord vom gleichen Tag. Demnach habe die „Bunkerisierung“ der Zone des Dunes bewirkt, dass Migrant_innen wieder verstärkt in die Innenstadt von Calais gezogen seien; auch in der westlichen Nachbargemeinde Coquelles hätten sich etwa zwanzig Migrant_innen niedergelassen. Hinzu komme, dass die Präfektur nach der Räumungswelle vor drei Wochen die Essenausgabe durch die staatlich mandatierte Hilfsorganisation La vie active bis zum 3. August ausgesetzt habe. Diese mit verschiedenen weiteren Angeboten (Toiletten, Wasser, Strom) verknüpfte Essenausgabe hatte die Migrant_innen in den vergangenen Jahren an die Rue des Huttes in der Zone des Dunes gelenkt und war 2019 zum Mittelpunkt des nun geräumten Jungle geworden. Die verbleibenden humanitären Maßnahmen des Staates, nämlich vier über das Stadtgebiet verteilte Zugänge zu Trinkwasser und ein Shuttleverkehr hin zu Duschen, seien aufgrund der nun zurückzulegenden Entfernungen nur noch schwer nutzbar. „Einige Migranten, meist Frauen und ihre Kinder, haben sich zwei Wochen lang nicht gewaschen […]. Sie haben oft keine Masken, um mit dem Bus zur Wasserstelle zu fahren“, so die Zeitung unter Berufung auf das Hilfswerk Secours Catholique.
Einige Zahlen der zivilgesellschaftlichen Organisation Utopia 56 (veröffentlicht am 29. Juli via Facebook) bestätigen diese verheerende Auswirkung der Räumungen: Demnach hätten ihre Freiwilligen in den 17 Tagen vor dem Räumungsbeginn am 10. Juli insgesamt 2.311 Mahlzeiten verteilt. Im gleichen Zeitraum nach Räumungsbeginn waren es 8.379 Mahlzeiten sowie 14.020 Liter Trinkwasser. „Das heißt, heute hat sich die Anzahl der Mahlzeiten um das Vierfache erhöht.“ Care4Calais erklärte im gleichen Kontext: „Though our governments may allow refugees to go hungry, we will not. The need for tents and sleeping bags to replace those destroyed is urgent.“
Entsprechend haben die Organisationen nun Essenausgaben auch im Stadtzentrum eingerichtet und missachten damit ein 2017 von der Kommune verhängtes Verbot. Bereits damals hatten sich zahlreiche Migrant_innen in die Parks, an die Quais, unter die Brücken und an den Staßenränder der Innenstadt zurückgezogen, nachdem der bis dahin größte Jungle im Vorjahr geräumt worden war und jede Bildung eines Camps bereits im Ansatz unterbunden wurde. Als wir Calais in dieser Zeit besuchten, lebten zahlreiche Menschen nur mit einer Plane, einer Thermofolie und einem Schlafsack, den sie tagsüber mit sich trugen, buchstäblich im Straßenbegleitgrün. Das Verbot der materiellen Hilfeleistung war Teil einer mitunter grotesken Verdrängungsstrategie aus dem Stadtraum in die Zone des Dunes (auch mit Hilfe der oben genannten Anlaufstelle an der Rue des Huttes), aus der nun eine Verdrängung u.a. in die umgekehrte Richtung stattfindet. Mit ihren repressiven Maßnahmen haben die Behörden also eine zutiefst widersprüchliche Situation geschaffen, die eine Essenausgane als „Provokation“ (so der Lokalpolitiker Philippe Mignonet laut La Voix du Nord) erscheinen lässt, so als seien warme Suppen in Plastikschalen der Grund für das Sichtbarwerden der Migration in Calais.
Vor diesem Hintergrund ist mit zweierlei zu rechnen: Dass sich eine hochgradig prekäre Situation wie 2017 wiederholen könnte. Und dass erneut versucht werden wird, materielle Hilfeleistungen zu kriminalisieren.
Neu hingegen ist, dass diese Entwicklung möglicherweise mit einer zweiten Welle der Corona-Pandemie zusammentreffen wird. Die Migrant_innen werden ihr dann ohne den geringfügigen Schutz ausgeliefert sein, den ein auch noch so prekäres Camp bieten kann. Bereits die erste Welle der Seuche hatte ihre Wirkung auf die Migrant_innen nicht durch die Ausbreitung der Krankheit selbst entfaltet, sondern durch die Verknappung lebensnotwendiger Ressourcen und die Erschwerung zivilgesellschaftlicher Arbeit. Die Räumungskampage hat nun aus symbolpolitischem Kalkül eine schlimmere Ausgangslage geschaffen, noch bevor eine zweite Welle überhaupt wirksam werden kann.