Wie bereits in den Vorjahren, verstärkten die französischen Behörden für die bevorstehenden Sommermonate die Küstenüberwachung. Die Zeitung La voix du Nord meldet allein knapp 800 zusätzliche Polizei- und Gendarmeriekräften für das Departement Pas-de-Calais. Die Maßnahme dürfte die Risiken beim Ablegen der Boote weiter erhöhen, während die Zahl der Bootspassagen im ersten Halbjahr dieses Jahres so hoch liegt wie noch nie.
Die Préfecture de zone de défense et de sécurité Nord – in Personalunion identisch mit der Präfektur des Departements Nord und der Präfektur der Region Hauts-de-France – begründet die Aufstockung mit „stark[em] Migrationsdruck, der im Küstenstreifen von Dunkerque bis zur Somme-Bucht durch Versuche gekennzeichnet ist, den Ärmelkanal auf behelfsmäßigen Booten illegal auf dem Seeweg zu überqueren“. Durch vergleichbare Maßnahmen habe im vergangenen Jahr die Anzahl der Überfahrten um 36 % reduziert, 800 Schleuser festgenommen und 49 Netzwerke zerschlagen werden können.
Als Maßnahmen der kommenden Monate werden benannt: die „konstante Abdeckung des Luftraums“, „Patrouillen der Strafverfolgungsbehörden“, „Finanzierung von technologisch fortgeschrittenem Material und Ausrüstung“ sowie die „europäische Zusammenarbeit gegen Netzwerke“. Dies beschreibt im Wesentlichen den bekannten Kern des britisch-französischen Grenzregimes, also eine von Jahr zu Jahr größere Zahl von Patrouillen in Verbindung mit Luftraumüberwachung u.a. durch Frontex und wechselnde Task forces unter dem Dach von Europol. Die Personalaufstockung erfolgt im Rahmen des französischen Programms zur Bekämpfung der irregulären Migration (lutte contre l’immigration irrégulière clandestine, kurz: LIIC).
Nach Angaben der Präfektur sind im Rahmen des LIIC-Programms im Sommer 2024 insgesamt 1.186 zusätzliche Ordnungskräfte vorgesehen, davon 502 Angehörige der Police nationale, 504 der Gendarmerie nationale und 144 der Unités de forces mobiles (eine Art Spezialeinheit aus CRS bzw. Gendarmerie). Der mit 787 Beamt_innen größte Teil dieser Vestärkungskräfte soll im Departement Pas-de-Calais eingesetzt werden, zu dem auch der zum Ablegen der Boote stark genutzte Küstenabschnitt bei Boulogne-sur-Mer gehört. Insgesamt 351 Ordnungskräfte sind für das Departement Nord und damit für den Küstenabschnitt bei Dunkerque vorgesehen. Erwähnenswert ist der Einsatz einer weiteren Gruppe von 48 Gendarmen im weiter südlich gelegenenen Departement Somme, wohin sich ein Teil der Ablegeversuche verlagert hat. Organisatorisch, so die Präfektur, werde die Verstärkung durch Urlaubsbeschränkungen und Reservekräfte erreicht, aber auch „dank der Einrichtung einer ‚Verstärkungskompanie‘, die sich der Bekämpfung der irregulären Einwanderung widmet. Sie besteht aus 280 Polizisten aus der gesamten Region.“
Die Küstenüberwachung war bereits in den vergangenen Sommern verstärkt worden (siehe etwa hier). Anders als von der Präfektur dargestellt, war dies zwar ein relevanter, aber keineswegs alleiniger Grund für den Rückgang der Bootspassagen im Gesamtjahr 2023, der vielmehr auf ein Bündel von Ursachen zurückgeführt werden kann. Eine indirekte Folge war außerdem eine stärkere Frequentierung der kalten Jahreszeit. NGOs und Medien dokumentierten eine Zunahme gewaltsamer Maßnahmen gegen ablegende Boote, was chaotische und riskante, zuweilen sogar tödliche, Situationen entstehen lässt (siehe hier und hier). Die Behörden ihrerseits werfen Schleusern und teils auch Migrant_innen vor, gewaltsamer vorzugehen als in der Vergangenheit.
Ereigneten sich Gewaltvorfälle früher meist an einsamen Strand- und Dünengebieten bei Nacht, so berichteten lokale Medien jüngst von einem nächtlichen Einsatz in Blériot, einem Ortsteil von Sangatte bei Calais. In einem Wohngebiet schossen CRS-Beamte in der Nacht des 24./25. Juni Tränengas eine Gruppe Exilierter, um sie zu zerstrteuen, und machte ihr Schlauchboot durch Messerstiche unbrauchbar.
Seit Jahresbeginn hat die Zahl der erfolgreichen Bootsüberfahrten trotz mehrerer Todesfälle gegenüber dem Vorjahr um 17 % zugenommen. Insgesamt durchquerten bis zum 28. Juni 13.195 Personen den Ärmelkanal auf 265 Schlauchbooten, auf denen sich durchschnittlich 50 Menschen befanden. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 11.278 Personen in 253 Booten mit durchschnittlich 45 Passagier_innen gewesen, ein weiteres Jahr zuvor 12.384 Menschen in 358 Booten mit einer durchschnittlichen Passagierzahl von 35. Das größere Risiko ist in diesen Zahlen offensichtlich.