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Tendenz zu größerer Brutalität

Brennendes Schlauchboot bei einem Polizeieinsatz, April 2024. Das Foto wurde von Exilierten aufgenommen und von Utopia 56 veröffentlicht. (Credits: Utopia 56)

Protokoll eine Recherche in Nordfrankreich

Mehrmals berichteten wir an dieser Stelle über gewaltsames Vorgehen gegen ablegende Boote an nordfranzösischen Stränden. Zudem registrierten wir, dass es bei Ablegemanövern wiederholt zu Todesfällen kam. Mitte April sprachen wir in Calais und Dunkerque mit mehreren NGOs über diese Entwicklung. Wir wollten verstehen, ob solche Fälle lediglich häufiger publik werden, oder ob sie eine Tendenz zur Wahl brutalerer Methoden anzeigen. Hier unser Protokoll.

„Das Game ist brutaler geworden“, begann eine seit anderthalb Jahren tätige Helferin ihren Bericht. Als the Game bezeichnen Exilierte ihre Versuche, nach Großbritannien überzusetzen. Unsere Gesprächspartnerin hatte den Eindruck, dass die Behörden etwa seit dem Ende des Winters sehr viel härter gegen ablegende Boote vorgehen. Die Gesamtsituation an den Stränden, aber auch in den Camps, sei noch brutaler geworden, als sie es ohnehin war. In anderen Gesprächen hörten wir dieselbe Einschätzung.

Dabei ist wichtig zu verstehen, dass sich die Gewalt in unterschiedlichen Szenarien ereignet. Ein relativ neues sind Pullbacks, also das zwangsweise Stoppen von Booten, die sich bereits auf See, aber noch in französischen Gewässern, befinden. Dieses Vorgehen war am 23. März 2024 durch das britische Investigativmedium Lighthouse Reports nachgewiesen worden. Videoaufnahmen dokumentierten zwei Fälle, bei denen Angehörige der französischen Nationalpolizei bzw. Gendarmerie ein Boot durch die Erzeugung hoher Wellen stoppten bzw. Tränengas auf Passagier_innen sprühten. Beide Vorgehensweisen waren illegal und gefährdeten Menschenleben (siehe hier). Die beiden von Lighthouse Reports dokumentierten Fälle sind bislang die einzigen, für die solche Belege vorliegen. Geflüchtete bereichteten jedoch bereits früher über ähnliche Fälle, sodass ein Dunkelfeld anzunehmen ist. Doch auch wenn Pullbacks offenbar zunehmen, bleiben sie selten.

Ein sehr viel häufigeres Szenatio sind Einsätze an Land gegen ablegende Boote, und zwar sowohl während des Ablegens selbst, als auch in der Phase unmittelbar danach. Dabei verläuft eine rechtliche Grenze entlang der Frage, ob das Boot bereits abgelegt hat oder nicht. Im ersten Fall ist das Einschreiten der Ordnungskräfte grundsätzlich legal, ist das Ablegen aber bereits vollzogen, ist das polizeiliche Einschreiten illegal. Genau diese Grenze scheint nun immer weniger eingehalten zu werden.

Ungefähr im März hat die Gewalt sowohl vor als auch nach dem Ablegen zugenommen und hält seither an. Dabei kommen LBD-Geschosse (Gummigeschosse), CS-Gas und Messer zum Einsatz, letztere um die Boote schnell unbrauchbar zu machen. Praktisch nach jeder Nacht, in der Boote ablegen, berichten Exilierte von zerstochenen Booten oder vergleichbaren Situationen. Da die Exilierten oft völlig durchnässt in Strandnähe angetroffen werden, muss angenommen werden, dass sich ein Teil der Boote bereits im Wasser befunden hat.

Verletzung durch ein Gummigeschoss, April 2024. Das Foto wurde von Exilierten aufgenommen und von Utopia 56 veröffentlicht. (Credits: Utopia 56)

Der Einsatz von LBD-Geschossen ist u.a. durch Verletzungen am Körper Betroffener dokumentiert. In einem Fall erlitt eine Person Verletzungen im Gesicht. Der Einsatz von CS-Gas löst nicht allein Reizungen der Augen und Atemwege aus. Weil diese Geschosse sehr heiß sind, können sie zu Verbrennungen führen oder einen Brand des Bootes auslösen. Zu Bränden kommt es sowohl während des Ablegemanövers als auch auf dem Wasser. Auch diese Beobachtung deutet darauf hin, dass heiße CS-Kartuschen auf Boote abgeschossen werden, die sich nach dem Ablegen bereits auf See befinden.

Einen Eindruck vom Geschehen an nordfranzösischen Stränden vermittelt ein Anfang April von Utopia 56 veröffentlichter Zusammenschnitt von Videoaufnahmen:

Videoaufnahmen verschiedener Einsätze von Polizei bzw. Gendarmerie gegen ablegende Boote. (Quelle: Utopie 56 / X)

Ein Teil dieser Aufnahmen wurde von Exilierten während eines Polizeieinsatzes in der Nacht des 7./8. April 2024 zwischen Calais und Dunkerque aufgenommen. Als dieses Video in den Sozialen Medien hohe Aufmerksamkeit fand, sah sich die Präfektur zu einer Reaktion veranlasst. Der Fall ist symptomatisch und soll daher kurz wiedergegeben werden.

So erklärte die Präfektur, es habe eine Schlägerei zwischen achtzig Migrant_innen gegeben, bei der vier Personen verletzt und von den Ordnungskräften in Sicherheit gebracht worden seien. Dieselbe Gruppe habe dann bei einem späteren Ablegeversuch Ordnungskräfte angegriffen und anschließend „aus Verärgerung ihr eigenes Boot“ angezündet. Utopia 56 legte daraufhin eine Schilderung aus Sicht der Exilierten sowie das auch in diesem Beitrag wiedergegebene Bildmaterial vor: „Alle Zeugenaussagen bestätigen, dass es tatsächlich Tränengasgeschosse waren, die das Boot in Brand setzten, und mindestens drei Personen wurden auch von LBD-Schüssen getroffen. Die Polizei hatte die Gruppe von Menschen, die versuchten, nach Großbritannien zu gelangen, angegriffen und aus zwei fahrenden Buggys heraus wahllos Tränengasgranaten abgefeuert. Nachdem das Boot in Brand gesetzt worden war, verließen die Polizisten anschließend den Ort des Geschehens und ließen die Gruppe am Strand zurück, darunter die verletzten Personen und mehrere Familien mit Kindern.“ In einem erneuten Post erklärte die Präfektur diese Schilderung für falsch, ohne jedoch eigene Belege vorzulegen. Die Beschuldigung von NGOs, Falschinformationen über gewaltsame Einsätze zu verbreiten, gehört inzwischen zum kommunikativen Standard der Behörden, meist verbunden mit der Rechtfertigung des eigenen Handels als Rettung von Menschenleben.

Zwei Buggys, aus denen nach Angaben der Exilierten CS-Gas abgeschossen wurde, April 2024. Das Foto wurde von Exilierten aufgenommen und von Utopia 56 veröffentlicht. (Credits: Utopia 56)

Seither hat die Gewalt nicht abgenommen. „Seit 24 Stunden haben mehrere Hundert Menschen den Ärmelkanal überquert und Hunderte weitere wurden von der Polizei aufgehalten. Dutzende Tränengasgranaten und LBD-Geschosse wurden abgefeuert, mindestens fünf Personen wurden verletzt. Die Lage ist katastrophal“, meldete Utopia 56 beispielsweise am 14. April 2024.

Ein weiteres Indiz für die größere Brutalität sind körperliche Verletzungen, die bei der Erstversorgung nach solchen Situationen festgestellt werden. Wie wir erfuhren, ging die Zunahme von Berichten über CS-Gas-Einsätze gegen ablegende Boote mit einer Häufung von Brandverletzungen einher. Auch andere Verletzungsmuster lassen sich auf Gewaltanwendung bei Ablegemanövern zurückführen. Am 23. März 2024 berichtete die Camp von Loon-Plage bei Dunkerque tätige NGO No Border Medics über einen solchen Fall: „Vor einigen Tagen erhielten wir einen Anruf, dass jemand verletzt wurde, weil die Polizei ihn angeschossen hatte. Wir fuhren […] hin, um ihn zu behandeln, er wurde von einer anderen Person am Straßenrand gefunden. Wir sehen Wunden, die, wie es heißt, durch das Abfeuern von Plastikgeschossen verursacht wurden, sowie Risswunden. Dies ist die Realität bzw. das Ergebnis der Interaktionen zwischen den Menschen auf der Flucht und den Behörden an dieser Grenze“, schreibt die NGO.

LBD-Geschoss, März 2024. (Foto: No Border Medics / Instagram)

Das Vorgehen von Polizei und Gendarmerie erzeugt größere Eile beim Ablegen, was wiederum die Gefahr von lebengefährlichen und tödlichen Unfällen erhöht. Todesfälle bei oder kurz nach Ablegemanövern ereigneten sich am 28. September 2023 (ein Todesopfer), 8. Oktober (ein Todesopfer), 22. November 2023 (zwei Todesopfer), 5. Dezember 2023 (ein Todesopfer), 14. Januar 2024 (fünf Todesopfer), 3. März 2024 (ein Todesopfer) und 23. April 2025 (fünf Todesopfer). Dies bedeutet nicht, dass sich alle Fälle während eines Einsatzes von Polizei/Gendarmerie ereigneten oder sogar direkt darauf zurückgeführt werden können. Unsere Gesprächspartner_innen beschrieben den Zusammenhang eher so, dass Einsätze gegen ablegende Boote generell zu größerer Hast, höherem Druck und möglicher Panik führen. Aber dennoch sind auch Todesfälle in einem direkteren Zusammenhang mit Einsätzen nachgewiesen. Dies gilt etwa für den Todesfall am 4. März 2024 auf dem Fluss Aa westlich von Dunkerque, an dessen Unterlauf ebenfalls Schlauboote ablegen. In dieser Nacht sprang Zeugen zufolge ein syrischer Geflüchteter, der nicht schwimmen konnte, aus Furcht vor der Polizei in den Fluss, um zu einem bereits im Wasser befindlichen Schlauchboot zu gelangen (siehe hier). Seit der Veröffentlichung dieser Umstände äußert sich die Präfektur nicht mehr zu dem Fall.

Ein anderer Effekt des massiveren Vorgehens gegen ablegende Boote ist die geographische Ausweitung der Ablegestellen in Richtung Normandie. Den im Gebiet um Calais, Dunkerque und Boulogne-sur-Mer tätigen NGOs gelingt es momentan, ein Gebiet abzudecken, das im Südwesten etwa bis Le Touquet reicht. Aber sie registrieren nun auch häufiger Abfahrten von weiter südlich gelegene Küstenabschnitten bei Crotoy und Cayeux-sur-Mer im Mündungsgebiet der Somme. Neben der weiteren räumlichen Distanz zu Großbritannien werden auch größere nautische Risiken in Kauf genommen. Früher lag die Grenze für Abfahrten bei 10-11 Knoten und 60-70 m Wellenhöhe, heute bei 15 Knoten und 1 m Wellenhöhe, während gleichzeitig die Zahl der Passagier_innen an Bord zunimmt.

Über die Gründe für die Zunahme der Gewalt gegen ablegende Boote lässt sich nur spekulieren. Ein wesentlicher Grund dürfte sein, dass die Zahl der Einsatzkräfte ein Jahr nach der letzten französisch-britischen Vereinbarung vom März 2023, die eine Aufstockung um 500 Personen vorsah (siehe hier), nun die angestrebte Größenordnung erreicht hat, also schlicht mehr Personal und Ausrüstung vorhanden sind als noch vor einem Jahr. Hinzu kommt, dass die Zahl der Bootspassagen nach einem starken Rückgang im Vorjahr im Winter 2024 deutlich zugenommen hat und den Vergleichszeitraum aller Vorjahre sogar übertrifft (siehe hier). Diese Entwicklung könnte die Behörden zu einem massiveren Durchgreifen motivieren. Möglicherweise könnte auch die Bindung von Polizei- und Gendarmerieeinheiten in anderen Teilen Frankreichs durch die Bauernproteste dieses Winters und die bevorstehenden Olympischen Spiele einen ähnlichen Effekt haben.

Die Tendenz zu einem massiveren, brutaleren und in Teilen illegalen Vorgehen gegen ablegende Boote könnte also prägend für die kommenden Monate bleiben. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass die Gewalt an der nordfranzösischen Küste trotz allem nicht das gleiche Ausmaß erreicht, mit dem Geflüchtete an anderen EU-Außengrenzen, etwa an der bosnisch-kroatischen Grenze, konfrontiert sind. Und weil es diesen Unterschied gibt, dürfte die größere Brutalität an der Kanalküste nicht dazu geeignet sein, Menschen an der letzten Etappe ihrer Reise zu hindern. Was sie sehr wohl bewirkt, ist vermeidbares menschliches Leid.