Kategorien
Calais

Ein rechtsfreier Raum

Details zu Übergriffen vor der Räumung des besetzten Hauses in Calais

Am 2. Juli wurde ein seit 2022 besetztes und durch einen Gerichtsbeschluss bis 2025 legalisiertes Haus in der Calaiser Innenstadt geräumt (siehe hier). Nun machten Aktivist_innen einige Vorkommnisse öffentlich, die schließlich zur Räumung führten, zugleich aber ein weiteres Schlaglicht auf die Situation nach der fatalen Europawahl vom 9. Juni 2024 werfen. Demnach schufen Nachbar_innen, Rechtsextreme, Medien und Behörden rund um das Haus eine Art rechtsfreien Raum. Die Ereignisse wirken wie ein Vorgeschmack auf Zustände, die bei einer Regierungsübernahme durch den Rassembelement National vermutlich gängig geworden wären – in Calais aber nicht wirklich verwundern. Daher lohnt ein Rückblick.

Der Bericht der Aktivist_innen wurde am 16. Juli 2024 auf der Website des Netzwerks Calais Migrant Solidarity veröffentlicht, das sich als Teil der No borders-Bewegung versteht. Demnach war das Haus in der Rue Frédéric Sauvage seit längerem Anfeindungen durch einen Teil der Nachbarschaft ausgesetzt, zusätzlichen Druck übten Polizei und Stadtverwaltung aus. Zum Beispiel habe die Stadtverwalung die Müllabfuhr verweigert und Mülltonnen entfernt. „Die hygienische Belästigung war für die Bewohner_innen ebenso schlimm wie für die für die Nachbarn_innen, und das Rathaus nutzte dies aus, um die Menschen gegeneinander aufzubringen“, so die Aktivist_innen.

Anfang Juni habe man in dem Haus mit Renovierungsarbeiten begonnen, um Frauen und Familien aufnehmen zu können, die von der öffentlichen Obdachlosenhilfe abgewiesen wurden. Damit habe man auf eine akute Notlage von Exilierten reagieren wollen. Gleich nach Ankunft der Aktivist_innen für diese Arbeiten habe eine Gruppe aus der Nachbarschaft gedroht, alles in ihrer Macht stehende gegen den Einzug der Migrant_innen zu tun. Die Aktivist_innen seien „sehr diplomatisch und geduldig“ mit der Situation umgegangen und hätten ihren Wunsch beteuert, „dass alles für alle gut läuft: für die Bewohner_innen, ihre Unterstützer_innen und die Nachbar_innen.“

Dann eskalierte die Situation am 11. Juni 2024, dem zweiten Tag nach der politischen Zäsur infolge der Europawahl. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu mehreren offenbar spontanen Übergriffen auf Exilierte in anderen Teilen von Calais gekommen (siehe hier), weitere und heftigere sollten dort sowie bei Dunkerque noch folgen. Die Aktivist_innen schildern den Verlauf in der Rue Frédéric Sauvage wie folgt: „Am 11. Juni brachen Nachbarn am helllichten Tag, als sich niemand in dem besetzten Haus aufhielt, in das Haus ein und durchtrennten die Kette, die die Tür verschloss, mit einer Zange. Sie warfen Möbel um, zerschlugen Fenster und verschütteten Spülmittel auf dem Boden. […] Der Ort war jedoch durch das Gerichtsurteil geschützt, da es sich um die Wohnung mehrerer Personen handelte […]“.

Wenn diese Schilderung zutrifft, war das Verhalten der Eindringlinge in mehrerer Hinsicht strafbar. Den Aktivist_innen zufolge wurden die Täter von einem Journalisten der Lokalzeitung Nord Littoral begleitet, der während des Tat fimte und „das Video in einem Artikel veröffentlichte, in dem er behauptete, das besetzte Haus sei leer“. Tatsächlich publizierte die Zeitung noch am Nachmittag desselben Tages online den Artikel À Calais, le squat Frédéric-Sauvage vidé, des riverains en colère et inquiets (dt.: In Calais wird das besetzte Haus Frédéric-Sauvage geräumt, die Anwohner sind wütend und besorgt). Der Text behauptet, das Haus habe seit dem 3. Juni leergestanden, erwähnt zugleich aber die begonnenen Renovierungsarbeiten. Dann folgt eine Beschreibung des Einbruchs ohne jegliche Distanzierung: „Für die Anwohner, die seit Beginn der Hausbesetzung ein Klima der Unsicherheit beklagen, war dies jedoch zu viel. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sich niemand im Haus befand, brachen Anwohner die Kette auf, zerschlugen dann einige Fenster und versuchten, eine Tür aufzubrechen.“ Der Artikel endet mit dem Hinweis auf die kurzzeitige Anwesenheit von Nationalpolizei und CRS. Diese hätten sich „nachgiebig gegenüber den Anwohnern [gezeigt], die ihre Wut zum Ausdruck brachten“, und seien nach kurzer Zeit wieder weggefahren.

In der folgenden Nacht wurden mehrere (an dieser Stelle schon erwähnte) Graffiti an die Rückseite des Hauses gesprüht. Sie enthielten typische Begriffe des französischen Rechtsextremismus („Nieder mit der Migrationstyrannei! Für mein Land“; „Schluss mit der linken Heuchelei! Für das antikonformistische Frankreich!“) und eine offene Morddrohung: „Leave or burn“. Maël Gallission, ein mit der lokalen Situation gut vertrauter Autor, ergänzt: „Ein Wasserhahn, der in der Nähe der besprühten Wände angebracht war und den Exilanten aus dem besetzten Haus und der Umgebung den Zugang zu Wasser ermöglichte, wurde ebenfalls unbrauchbar gemacht.“

Zwei Tage später, am 13. Juni, folgten weitere rechtsextreme Parolen, diesmal an der Toreinfahrt des Hauses. Eine der Parolen lautete schlicht „Bardella“, gefolgt von einem Herzen. Die unbekannten Täter_innen sahen sich offenbar d’accord mit dem Vorsitzenden des Rassemblement National und imaginären künftigen Premierminister.

Am folgenden Tag, dem 14. Juni, unternahm die Stadtverwaltung einen Versuch, das vermeintlich leerstehende Haus zu vermauern. Weil sich jedoch Personen in dem Haus aufhielten und sich weigerten zu gehen, erklärten die Behörden lediglich ein Betretungs- und Wohnverbot, wie es bei leerstehenden und als gefährlich angesehenen Bauten üblich ist. Nach Angaben der Aktivist_innen stützten sich die Behörden auf den Bericht von Nord Littoral über den Einbruch sowie auf Angaben von Nachbar_innen. In den folgenden Wochen führten die Aktivist_innen ihr Projekt fort und machten das Haus nach eigenen Angaben zu einem „Ort des Zusammenlebens zwischen den Aktivist_innen und den Frauen und Familien, die dort Zuflucht fanden“. Am 2. Juli jedoch setzten die Behörden das Betretungs- und Wohnverbot durch, verwiesen eine anwesende Frau aus dem Gebäude und vermauerten das Haus.

Die Aktivist_innen verurteilen dieses Vorgehen in rechtlicher Hinsicht als einen leicht durchschaubaren Trick zur Umgehung eines Gerichtsbeschluss, der eine Räumung erst 2025 gestattete. Aber die politische Dimension des beziarren Geschehens geht weit darüber hinaus. Denn statt auf das Gericht stützten sich die Behörden auf einen Einbruch und damit auf eine Straftat. Sie taten dies in einer volatilen politischen Situation, in der eine Regierung Bardella möglich schien und allein diese Vorstellung in Frankreich eine Reihe rechter Gewaltakte motivierte. An der Rue Frédéric Sauvage gingen die Behörden nicht gegen den Mob vor, der sich in der Nachbarschaft des Hauses formiert hatte, sondern belohnten sein kriminelles Handeln, indem sie das Objekt seines Hasses vermauerten.